Der Koran nach Baba Mondi

Zehn Jahre nach Ende der Diktatur in Albanien will Vater Edmond dem Islam zur neuen Blüte verhelfen – mit einer pragmatischen Variante der Religion

aus Gjirokaster HEIKE HAARHOFF

Als der Strom nach Gjirokaster zurückkommt, schließt Baba Edmond die Augen. Die Wiederkehr des elektrischen Lichts, über Stunden ausgefallen in der kleinen Gebirgsstadt nahe der griechischen Grenze, macht ihm zu schaffen. Dann huscht dem Geistlichen ein Lächeln übers Gesicht. „Die Schwierigkeiten, denen wir heute begegnen, sind trotz allem vergleichsweise gering.“

Im äußersten Süden Albaniens, wo Strom manchmal und Wasser noch seltener fließt, ist der Mangel noch alltäglicher als in Tirana, der Hauptstadt. Aber was sind das schon für Unannehmlichkeiten verglichen mit einer Zeit, da man nicht bloß um das Licht fürchten musste, sondern um das Leben Tausender Menschen? „Die Kommunisten haben uns jahrzehntelang verfolgt, uns, die Bektashi, die bedeutendste Strömung innerhalb der Muslime Albaniens.“ Wie alle anderen Religionsgemeinschaften übrigens auch. „Sobald sie entdeckten, dass jemand gläubig war, ließen sie ihn hinrichten, steckten ihn ins Gefängnis oder ins Arbeitslager.“

1967 erklärte Diktator Enver Hoxha Albanien zum atheistischen Land im Wortsinn – ein weltweit beispielloses Vorgehen. Kirchen, Moscheen, Tekken, die heiligen Stätten der Bektashi, alles wurde beschlagnahmt, enteignet oder zerstört: Wo einst die orthodoxe Kathedrale von Tirana stand, erhebt sich heute der beeindruckende Turm des „Hotel Tirana“. Architektonischer Kahlschlag, auf dass die Erinnerung ausgelöscht werde, das war es, woran das Regime glaubte.

Aber die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Baba Edmond, „Vater Edmond“, wie der religiöse Vize-Chef vom Weltzentrum der Bektashi in Albanien heißt, will nicht darüber sprechen. Nur so viel: „Unsere Tekke hier in Gjirokaster, der Geburtsstadt von Enver Hoxha, verwandelten sie in eine Kaserne.“ Wieder dieses Lächeln. „Aber – wir haben sie uns zurückgeholt. Sehen Sie selbst.“

Ein zweistöckiges Gebäude, Stil alter Landadelssitz. Der Baba schreitet voran. Er ist ein mittelgroßer Mann, dessen Figur den Gourmet erraten und dessen Alter sich schwer schätzen lässt, wohl auch wegen seiner Garderobe: Baba Edmond trägt zu seinem langen schwarzen Bart ein bodenlanges, wallend weißes Gewand und auf dem Kopf einen Turban in Weiß-Grün, den Farben des Bektashi-Ordens. Und wenn nicht manchmal ein Zipfel seiner hellblauen Jogginghose aufmüpfig unter der Robe hervorlugen würde, könnte man meinen, der Baba sei einem Märchen aus 1001 Nacht entstiegen. Im oberen Stock die Versammlungsräume für die religiösen Oberhäupter, den Dede, also den „Großvater“, eine Art Papst in der Hierarchie der Bektashi, den Baba, seinen Stellvertreter, und die Derwische, die Basis-Geistlichen, die gewöhnlich die Tekken bewohnen und bewirtschaften. Der Putz blättert von den Wänden, der Wind pfeift durch die Ritzen, und Baba Edmond sagt fröhlich: „Wir haben kein Geld.“

Zehn Jahre nach dem Niedergang des kommunistischen Regimes in Albanien hat die sozialistische Regierung unter Ministerpräsident Ilir Meta immer noch keine Lösung für Rückgabe und Entschädigung religiösen Besitzes gefunden. Lediglich ein Drittel ihres einstigen Vermögens hätten sie bislang zurückerhalten, klagen die Orthodoxen, die Katholiken, die Muslime. Die Regierung, Repräsentantin eines streng laizistischen Staates, verspricht seit zwei Jahren, dass ein entsprechendes Gesetz in Vorbereitung ist. Unterdessen sehen sich die verschiedenen Religionsgemeinschaften nach anderen Finanzquellen um – häufig ausländischen. Diese kommen seit der Öffnung Albaniens in Scharen: Geld fließt aus Saudi-Arabien, Ägypten, Katar, Iran, den Vereinigten Emiraten. Offiziell nur aus Gründen der humanitären Hilfe und nicht etwa politischer Einflussnahme, versteht sich. Baba Edmond lacht sein herzhaftes Lachen. „Keine Angst, in Albanien gibt es keine Fundamentalisten! Aber trotzdem muss doch das Überleben irgendwie gesichert werden.“ Selbstverständlich ist sein Ziel, dem Islam zu einer neuen Blüte zu verhelfen. Laut Umfragen kennt die Mehrheit der Albaner zwar ihre religiöse Herkunft, bezeichnet sich aber nicht als gläubig. Folglich kann ein Wiedererstarken des Islam, wenn überhaupt, nur mit größtmöglicher Aufgeschlossenheit erfolgen. „Wenn du stirbst, wird Gott dich nicht fragen, ob du Christ warst oder Muslim, denn es gibt ohnehin nur einen Gott“, erklärt Baba Edmond. „Dieser Gott wird dich fragen, was du aus deinem Leben gemacht hast. Er wird dich fragen: Wozu hast du deine Augen genutzt, wozu deine Ohren, wozu deinen Mund? Hast du dein Hirn genutzt? Das, Schwester, ist der Bektashismus.“

Der Turban wackelt im Takt

Er streicht sein Gewand aus einer längst vergangenen Epoche glatt und klettert in seinen Turbo-Jeep: Er muss zu einem Treffen mit dem iranischen Botschafter in Albanien. Der Fahrer lässt den Motor aufheulen, Baba Edmond hört die Mailboxen seiner zwei Handys ab und legt dann eine Kassette ein: Modern Talking. Es ist seine Lieblingsmusik. Sein Turban wackelt im Takt. „Nennen Sie mich Baba Mondi“, schlägt der geistliche Würdenträger vor. Mondi, Koseform von Edmond, alle Welt nennt ihn so, und Allah allein weiß, wo sein weltlicher Name geblieben ist. Was er gedacht hat, Mondi-Edmond-wie-immer-sein-Name-sei, über die albanische Armee, deren Offizier er bis 1990 war? Und schließlich: Was machte er mit seinem Glauben, heute, mit 42 Jahren, wäre das Regime nicht gestürzt worden? Baba Mondi ist für solche Fragen taub. Baba Mondi hört Modern Talking. „You can win, if you want.“

– Baba Mondi, was können die Arbeitslosen in Ihrem Land gewinnen, wenn sie dem Islam folgen?

– Es gibt eine sichtbare Welt und eine unsichtbare. Mohammed sagt: Was ist Glück? Es ist, das Leben so zu akzeptieren, wie es ist.

Das Leben so akzeptieren, wie es ist. Wie es am Autofenster vorbeizieht: leere Moscheen in Dörfern, wo man sich mehr um den Regen als um Gott sorgt: weil seit Monaten kein Tropfen gefallen ist oder weil ein Guss ganze Straßen in Sekundenschnelle in Seen verwandelt. Bier- und Raki-Kneipen, dicht gefüllt mit Menschen, auch während des Fastenmonats Ramadan. Menschen, die feiern, Menschen, die versuchen, die kollektive Armut einer ganzen Nation zu vergessen und ansonsten auf ihren Dächern und Plätzen die europäische Fahne hissen. Koranschulen, finanziert aus Quellen im fernen Katar und vor Ort vertreten durch Lehrerinnen, die ihr schönes katarisches Gehalt loben und ansonsten mit Lippenstift und Wimperntusche zum Unterricht erscheinen. Und schließlich Innenstädte, wo junge Frauen in Miniröcken vor der zentralen Moschee posieren, in der Hoffnung, Miss Albania zu werden.

– Baba Mondi, wie weit geht die Toleranz?

– Mohammed sagt: Liebe dein Vaterland mehr als deine Religion.

Und wenn dieses Vaterland die Gewohnheit hat, Alkohol zu trinken und Schweinefleisch zu essen, so wird es der Prophet verstehen. Wenn dieses Vaterland 50 Jahre lang vom Kommunismus geprägt wurde und der damit verbundenen Emanzipierung von ländlichen und traditionellen Strukturen, dann gilt es, Nachsicht walten zu lassen, dass Frauen dem Imam die Hand geben und gemischte Ehen die Regel sind. Der Koran rechtfertigt alles. Man muss bloß die richtige Passage finden. Wenn dieses Vaterland 1992 Mitglied der Konferenz islamischer Staaten geworden ist und heute, nach den Attentaten in den USA, nicht nur scherzhaft anbietet, seine Moscheen zu zerstören, um zu zeigen, auf wessen Seite man steht, ist das kein Widerspruch, sondern eine Logik à l’albanaise, wie sie so vielen armen Ländern eigen ist: Man muss sich mit demjenigen gut stellen, der Hilfe verspricht.

Ein schockierter Botschafter

Baba Mondis Jeep hält. Er ist beim Treffpunkt mit dem iranischen Botschafter angelangt, ein paar Stunden von Gjirokaster entfernt, in den Bergen, wo eine Tekke dringend saniert werden muss. Es ist Mittag, und es regnet. „Gehen wir essen, bevor wir uns die Tekke ansehen?“, schlägt Baba Mondi vor. Das Lächeln des Botschafters dauert nur Sekunden – bis er Baba Mondi die Hammelkeule auf seinem Teller mit beiden Händen essen sieht. Zwei Mal in nur vier Jahren, berichtet Baba Mondi, habe die iranische Regierung ihn schon nach Teheran eingeladen, „und schön war es“, fügt er hinzu, während er sich die Finger ableckt. Der Botschafter wendet sich ab.

– Baba Mondi, der albanische Islam scheint so verschieden von dem anderer Länder. Ist es vorstellbar, dass Babas und Imame eines Tages heiraten dürfen?

Baba Mondi will antworten, doch der Botschafter kommt ihm zuvor. Er hat genug erdulden müssen. „Wissen Sie“, sagt er, „die Frauen sind seit jeher die Quelle aller Sünde. Einige paktieren mit dem Satan. Deswegen dürfen zumindest die Geistlichen nicht heiraten.“ Baba Mondi sieht ihn verblüfft an, überlegt, antwortet auf seine Art: „Frauen und Kinder kosten enorm viel Geld. Sie fressen dir die Haare vom Kopf. Aber wir, die Babas und die Derwische der Bektashi, wir sind arme Leute . . .“

Das Lächeln des Botschafters gefriert. Er hat es jetzt eilig, die Tekke zu besichtigen, die seine Regierung finanziell unterstützen wird. Es regnet immer heftiger. Die Straße hinauf in die Berge ähnelt einem reißenden Gebirgsbach. „So wie es aussieht . . .“, setzt Baba Mondi an. „. . . können wir die Tekke nicht besuchen“, führt der Botschafter den Satz zu Ende. Die Reparaturarbeiten werden trotzdem bezahlt werden. Die beiden Männer verbeugen sich zum Abschied. Kaum ist das Auto des Diplomaten hinter der Kurve verschwunden, sucht Baba Mondi die nächste Kneipe auf. Das Dorf erwartet ihn schon. Baba Mondi lächelt sein breites Lächeln. „Bier und Raki für alle!“ Er trinkt das Bier wie einer, der es sich nach einem langen Tag verdient hat. „Der Iran“, sagt er, „ist eben anders. Die haben dort die Epoche ihrer Enver Hoxhas noch nicht überwunden.“ Ein guter Trinkspruch für eine zweite Runde. In die bierselige Feierlichkeit hinein sagt Baba Mondi: „Der wahre Glaube existiert nur zwischen Gott und dem einzelnen Menschen.“