Hunger ist Ansichtssache

Hilfsorganisationen widersprechen US-Regierung, dass eine Hungersnot in Afghanistan abgewendet sei. Welthungerhilfe: „Gefahr nicht gebannt“. Abgelegene Gebiete ohne Versorgung

BERLIN taz ■ In Afghanistan ist die Gefahr einer Hungersnot nach Ansicht von Hilfsorganisationen noch immer akut. Damit widersprechen sie der US-Regierung, die am Donnerstag dort Hunger als „abgewendet“ bezeichnet hatte. „Die Gefahr ist nicht gebannt“, sagte die Sprecherin der Deutschen Welthungerhilfe, Iris Schöninger, der taz. „Die Menschen, die von der Landwirtschaft leben, haben keinerlei Reserven mehr.“

Durch die am 7. Oktober begonnenen Bombardierungen der US-Luftwaffe sei vielerorts die Aussaat verhindert worden, sodass auch in diesem Jahr die Ernten nicht ausreichen würden, sagte Schöninger. Ihre Organisation arbeitet seit Mitte der 80er-Jahre in Afghanistan und erreicht dort zur Zeit 127.000 Menschen. Nach dem Sturz der Taliban sei das größte Problem der humanitären Hilfe die Sicherheit der Helfer und dass viele Dörfer im Winter selbst mit Eseln unerreichbar seien. Die bisherige Hilfe habe vor allem Städte erreicht.

„Eine Hungersnot riesigen Ausmaßes ist wohl verhindert worden“, sagte der Sprecher der deutschen Sektion der internationalen Hilfsorganisation Oxfam, Jörn Kalinski, zur taz. „Das ist ein großer Erfolg, aber es gibt immer noch Regionen, wo kaum Hilfe möglich ist und wo hunderttausende nicht genug zu essen haben.“ 230.000 Menschen seien bei Kandahar von Lebensmitteln abgeschnitten, in Dschalalabad verhinderten Plünderungen durch die Soldaten von Warlords und die unsichere Lage die Verteilung der Hilfe. In Washington hatte am Donnerstag der Chef der US-Behörde für internationale Entwicklung verkündet (US-Aid), in Afghanistan sei eine Hungersnot abgewendet worden. Als Erfolg wertete Andrew Natsios, dass seit Oktober die Mitarbeiter des UNO-Welternährungsprogramms 209.000 Tonnen Lebensmittel nach Afghanistan gebracht hätten. Seien es im September noch 11.000 Tonnen gewesen, so wären es im Oktober 27.000, im November 55.000 und im Dezember 116.000 gewesen. Dieser Erfolg sei vor allem auf die einheimischen Mitarbeiter zurückzuführen gewesen. Laut Natsios stammten zwei Drittel der verteilten Lebensmittel aus den USA. Er räumte allerdings ein, dass in einigen Gebirgsregionen die Lage immer noch Besorgnis erregend sei.

Mit der Pressekonferenz wollte die US-Regierung die negativen Auswirkungen des US-Kriegs in Afghanistan auf die Lebensbedingungen der Menschen herabspielen. So sagte der amtierende Staatssekretär im US-Außenministerium, Alan Kreczko, seit Beginn der US-Luftangriffe seien 150.000 Afghanen aus ihrer Heimat geflohen und damit weit weniger als befürchtet. Hilfsorganisationen hatten vor dem Winter eine Bombenpause gefordert, um die Bevölkerung versorgen zu können. Dies hatte die US-Regierung abgelehnt. Sie hielt einen schnellen militärischen Sieg für den besten Weg zur Versorgung der Menschen. SVEN HANSEN

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