Der entzauberte Berg

Skifahren in Davos: Eine Liebeserklärung an den Massentourismus. Statt morbider Zauberbergatmosphäre tobt hier der Bär auf den Pisten und in den Clubs

von CHRISTIAN SAEHRENDT

In früheren Jahrhunderten gab es kaum jemanden, der die Alpen freiwillig besuchte. Die Bergwelt galt Reisenden als schrecklicher Anblick eines wüsten und menschenleeren Raumes. Bei Passüberquerungen war es noch üblich, die Kutschenfenster zu verhängen, damit niemand die Ödnis von Fels und Eis sehen musste. Wem es heute noch ähnlich geht, wer als Bewohner des dicht besiedelten Flachlandes immer eine U-Bahn-Station oder eine Pommesbude in Sichtweite haben muss und nichts stärker fürchtet als den Horror Vacui einer menschenleeren Landschaft, der ist in Davos am richtigen Ort. Hier lässt sich die grandiose Berglandschaft aus der sicheren Position städtischer Infrastruktur und in Begleitung vertrauter Menschenmassen erleben, wozu allerdings ein Besuch zur Hochsaison empfohlen wird. Davos ist eine Stadt in den Bergen, ein Gräuel für jeden heimattümelnden Gemütlichkeitsfanatiker.

Von 1865 an kamen die ersten Tuberkulosekranken aus ganz Europa nach Graubünden. Davos und Arosa hatten im Kurwesen europaweit einen Ruf. Der Ausbau der rätischen Bahn ermöglichte einen medizinischen Massenbetrieb im Hochgebirge. Am Ende des Jahrhunderts war in Davos eine komplette Infrastruktur entstanden, mit Straßen, Promenaden, Bergbahnen, Sanatorien, Hotels und Pensionen, die zum Teil auf eine Höhe von bis zu 1.900 Metern über dem Meeresspiegel gebaut worden waren. Die starke Sonneneinstrahlung, die relativ geringe Niederschlagsmenge, sowie die intensive Lichteinwirkung mit reichlicher ultravioletter Strahlung galten damals als wichtige Heilfaktoren bei der Behandlung von Tuberkulose. Die Hotels und Sanatorien boten ihren Langzeitpatienten zahlreiche Unterhaltungen, von Vorträgen bis zum Tangotee. Die Zwangsgemeinschaft der Lungenkranken umfasste Landsleute nahezu aller europäischen Länder und sozialen Schichten, sie war ein Abbild der europäischen Gesellschaft der Jahrhundertwende, wie es Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ treffend schilderte. Er setzte dem Kurbetrieb ein literarisches Denkmal.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts landeten zahlreiche Dichter, Schriftsteller und bildende Künstler in Davos. Manchen reichte ein Aufenthalt, manche kamen regelmäßig, andere siedelten sich dauerhaft im Landwassertal an, darunter bekannte Namen, wie der Dichter Christian Morgenstern, René Schickele, und Klabund (alias Alfred Henschke). Klabund schilderte in den 20ern die buntgemischte Kurgesellschaft der Sanatorien: „Ernste Deutsche, flüchtige Italiener, behäbige Holländer, zwitschernde Brasilianer, duftende Französinnen, dunkle Russen wanderten im gleichmäßig getragenen Kurschritt des Kranken über die Promenade.“ Auch der bekannte Expressionist Ernst Ludwig Kirchner verbrachte seine beiden letzten Lebensjahrzehnte in Davos. Ein schmucker Museumsneubau präsentiert heute große Teile seines malerischen und grafischen Werkes.

Schon in den 1930er-Jahren gelang den Davosern der sukzessive Umstieg vom Kurbetrieb auf den Sporttourismus. Der Bau von Bergbahnen und Skiliften erschloss dem Massenpublikum die Pisten. Munter wurde die Jugendstilherrlichkeit alter Pensionen und Sanatorien abgerissen und umgebaut. Eine nüchterne Zweckarchitektur bestimmt inzwischen das Stadtbild, wobei die 70er-Jahre-Moderne schon Patina angesetzt hat. Einige ältere Hotels dienen heute als Jugendherbergen, wie das „Snowborders Palace“. Im Konkurrenzkampf um junge Touristen liegt Davos gut im Rennen, wenngleich Berichte der Schweizer Boulevardpresse über den „Ballermann der Alpen“ feinere Herrschaften bald vergraulen könnten.

Die morbide Atmosphäre des Zauberbergs ist heute weggeblasen. Wer das moderne Davosgefühl genießen will, der reise in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr an und begebe sich unverzüglich auf die Pisten. In dieser Woche verdreifacht sich die Einwohnerzahl von 13.000 auf über 40.000, alle wichtigen Veranstaltungen wie der Spengler-Cup, ein international besetztes Eishockeyturnier oder der Silvester-Snowbordjam finden dann statt. Es empfiehlt sich natürlich die Anreise mit dem Auto, so kann man, eingereiht in dichte Fahrzeugkolonnen bei Tempo 30, die Landschaft am besten genießen. Am Wolfgangpass zeigt sich, ob Schneeketten nötig gewesen wären. Doch Fahrer mit Sportsgeist und Improvisationsgabe lassen sich kurz vor dem Ziel nicht aufhalten, während die Einheimischen in ihren riesigen, allradbetriebenen Geländewagen vorbeirauschen. Nach dieser Prüfung winken weitläufige Parkflächen als Belohnung. Der Zubringer zum größten Skigebiet der Region ist in modernen Gelenkbussen, auf die so manche Großstadt neidisch wäre, schnell erreicht.

Nach etwa 40 Minuten Wartezeit geht es hinein in die Parsennbahn, die bald so voll ist wie die U-Bahn in Tokio. Ein Faktum, das alle Beteiligten aber profimäßig-gleichmütig hinnehmen. Die andere Transportvariante, eine Luftseilbahn, bringt die Skifahrer auf das als „Funmountain“ vermarktete Jakobshorn. Vor einer kleinen Kapsel stehen zwei Busladungen Menschen. Man glaubt nicht, dass sie alle hineinpassen, bis das Schild max. 60 Personen an der Gondel lesbar wird. Nun heißt es unerschrocken einsteigen. Während der Fahrt zum 2.500 Meter hohen Gipfel entsteht spürbar eine Schicksalsgemeinschaft, die bei jedem Ruckeln der Gondel kollektiv den Atem anhält oder zu hysterischen Kalauern neigt. Das Verlassen der Gondel wird zum gemeinsamen Freiheitserlebnis. Verlockend liegen die autobahnbreiten Pisten mit ausgeschilderten Abfahrten und Zubringern in der Sonne.

Prächtige Schneekanonen säumen den Weg und bestreuen die Pisten mit wunderbar feinkörnigem, styroporartigem Kunstschnee. Die Wintersportler sind in großer Artenvielfalt versammelt, wobei Sportgerät und Altersgruppe korrelieren (Ausnahmen bestätigen die Regel): In eisgrauen Kitteln, meist in Rudeln, und oft robbenartig in der Sonne hingelagert, erscheinen die Snowborder (7–30 Jahre). Skifahrer treten buntscheckiger auf (30–65 Jahre), als gesonderte Species seien professionelle Abfahrtsrennfahrer (besonders bunte, aerodynamische Anzüge, Helme, krumme Skistöcke) erwähnt. Daneben fallen Menschen in altertümlicher Skibekleidung auf, die ihre Ausrüstung aus Geiz seit den 1980er-Jahren nicht verändert haben (lila-, pink- oder türkisfarbene Anzüge, keine Carvingski). Im Tal sind noch Rodler (1–7 Jahre), Loipenlangläufer (65–85 Jahre) und Skater, die einer dynamisierten Langlaufvariante nachgehen, anzutreffen. Eine lückenlose Bewirtungsstruktur versorgt die Gäste. Leider wird man auf einigen Alphütten mit erbärmlichen Volksmusiksurrogaten dauerbeschallt, so erscheint es als groteske Gnade, auf der nächsten Hütte abgeleierten Stadionrock von Foreigner hören zu dürfen.

Ein Segen für alle sind hingegen die Sessellifte, die die für Anfänger und Tagträumer riskanten Schlepplifte Zug um Zug ersetzen. Langsam schweben die Vierer- oder gar Sechsersessel heran, die selbst Gebrechliche und Angetrunkene problemlos aufnehmen. Sanft schaukeln sie den Gipfeln entgegen, immer kleine Gruppen vereinend. Herrlich lässt sich von oben die Landschaft bewundern, mit Häme oder onkelhafter Nachsicht werden die Stürze der Anfänger kommentiert. „Do hats uffgeschwartet“ bemerkt trocken mein Nachbar über eine bonbonfarbig gekleidete Dame, die, sich mehrfach überschlagend, eine imposante Schneefontäne erzeugt. Einen Moment der andächtigen Stille erzeugt hingegen der Rettungshubschrauber: Die Spaßgesellschaft gedenkt ihrer gefallenen Kameraden.