Auf Wurzelsuche in den Karpaten

Zwölf Jahre nach der Wende – und noch immer ist es schwer, ethnische, religiöse und staatliche Zugehörigkeiten im östlichen Mitteleuropa auseinander zu halten. Das zeigt sich zum Beispiel bei den Fehlern in der Berliner Andy-Warhol-Retrospektive

von DIETMAR BARTZ

Ganz recht heißt es im Katalog zur Warhol-Retrospektive in der Berliner Neuen Nationalgalerie: „Die Religiösität der Familie stellt einen weitgehend unbekannten Bezugspunkt dar.“ Doch das gilt bedauerlicherweise auch für die Biografie von Andy Warhol selbst, deren Darstellung in Berlin einige Fehler aufweist.

So macht die große chronologische Übersicht im Eingangsbereich der Ausstellung aus der Warhol-Familie „Mitglieder der ruthenischen Glaubensgemeinschaft“. Der Katalog ergänzt: „die der russisch-orthodoxen Kirche nahe steht“. Tatsächlich aber sind Ruthenen eine Ethnie, keine Religion: Sie sind ein ostslawisches Volk mit eigener Sprache und Identität, das im nordöstlichen Karpatenbergland lebt, wo die Slowakei, Polen und die Ukraine aufeinander stoßen.

Die Ruthenen sind auch nicht russisch-orthodox, sondern griechisch-katholisch. Beide Religionsgemeinschaften folgen zwar dem byzantinischen Ritus. Aber die Graeco-Katholiken erkennen letztlich den Papst in Rom als ihr Oberhaupt an, während die russisch-orthodoxen „Pravoslavni“ – die „Rechtgläubigen“ – dem Metropoliten in Moskau unterstehen. Die politischen Konsequenzen daraus haben die Beziehungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften bis heute vergiftet: Die UdSSR und ihre realsozialistischen Trabanten enteigneten die griechisch-katholischen Gemeinden zugunsten der russisch-orthodoxen Kirche, die den kulturpolitischen Leitlinien der KPdSU folgte, und die Gläubigen mussten die Kirchenzugehörigkeit wechseln. Nach der Wende 1989 entstand fast aus dem Nichts die griechisch-katholische Kirchenorganisation neu, doch die Kirchen wurden erst nach heftigen, teils blutigen Auseinandersetzungen restituiert; bis heute ist eine Fülle von Rechtsstreitigkeiten anhängig. Von „Nahestehen“ kann da trotz aller Aussöhnungsversuche zwischen Papst und Metropolit keine Rede sein.

Auch zwölf Jahre nach der Wende ist es immer noch schwer, ethnische, religiöse und auch staatliche Zugehörigkeiten im östlichen Mitteleuropa auseinander zu halten. Dabei liegt der Herkunftsort der Familie Warhol nicht weiter von Berlin entfernt als Brüssel oder Zürich – nur eben nach Südosten. Über geografische Herkunft und die Nationalität der Familie bleibt der Katalog unbestimmt: „Seine Eltern sind Julia und Andrej Warhola, die in Miková geheiratet haben, einem Ort im damaligen Habsburgischen und heutigen slowakischen Grenzgebiet zur Ukraine.“ Tatsächlich waren Warhols Eltern nach Staatsangehörigkeit k.u.k.-Ungar und -Ungarin, als sie 1909 heirateten und Andrej 1913 in die USA auswanderte; als Julia 1921 ihrem Mann nach Pittsburgh folgte, war sie Tschechoslowakin. Seit der Unabhängigkeit 1993 haben die Menschen in Miková einen slowakischen Pass – lebten allerdings schon immer an der polnischen, nicht an der ukrainischen Grenze.

Identitätsstiftend konnte die Nationalität für eine Minderheit unter solchen Bedingungen kaum sein. Dafür kam für die Warhols wie für die Ruthenen insgesamt nur die Volksgruppe in Frage. Und Ruthenen sprechen ruthenisch, nicht „ ,Po Nasemu‘, eine Mischung aus Ungarisch und Ukrainisch“, wie der Katalog wissen will. Wörtlich und korrekt geschrieben heißt „po našemu“ nichts weiter als: „Auf Unsrig“, also „in unserer Sprache“. Benutzt wurde dieser Ausdruck nur in Abgrenzung zur ungarischen Amts- und Adelssprache, später und bis heute zum Slowakischen. Wobei das Ruthenische tatsächlich ein Problem ist, denn mit seinen vier Dialekten verhält es sich wie mit den rätoromanischen: Eine gemeinsame Sprache fehlt. So gehört die ruthenische Sprachgruppe unmittelbar zur Familie der ostslawischen Sprachen und ist mit dem Ukrainischen verschwistert. Aus dem Ungarischen sind nur ein paar Lehnwörter aufgenommen; ruthenische nationalistische Dichter des 19. Jahrhunderts wie etwa Alexander Duchnovič, die das Ukrainische verachteten, haben als Hoch- und Publikationssprache Russisch benutzt.

Während die drei ostruthenischen Dialekte eine enge Verwandtschaft mit dem Ukrainischen aufweisen, stellt der vierte Dialekt, Lemkisch, schon fast eine Brücke zum Slowakischen dar, einer westslawischen Sprache. Warhols Eltern und Andy Warhol selbst sprachen diesen lemkischen Dialekt, der bei Warhol und in der Slowakei wiederum Ruthenisch heißt (ruthenisch: „po rus’ky“, slowakisch: „po rusínski“, englisch: Rusyn). Andys älterer Bruder John bestätigt, dass der Popkünstler mit Mutter Julia, die 1959 zu Andy gezogen war, bis zu ihrem Tod 1972 Ruthenisch gebetet hat.

Auch Warhol blieb bis an sein Lebensende gläubig und hielt dies streng geheim. Die Strukturanalogien zwischen religiöser und künstlerischer Sphäre sind tatsächlich noch kaum erforscht: Eine gewisse Gleichgültigkeit, mit der die griechisch-katholische Kirche das diesseitige Schlecht- oder Wohlergehen ihrer Gläubigen betrachtete, entsprach durchaus der Kritiklosigkeit, mit der Warhol den Konsum um sich herum ansah. Die wahre Welt, die Warenwelt war für ihn ohne jede innere Bedeutung. Das Paradies hingegen, das sich im Kirchenraum darstellt, goldglänzend, Ehrfurcht gebietend, die Deifizierung des Gläubigen verheißend – das Paradies hingegen entsprach der Kunstproduktion, die dem Artisten seine Erfüllung erlaubte. Das geschah nicht in der Kirche, aber in der Fabrik, Warhols Factory, als kultischem Raum seiner Gemeinde, die mit Götzendienst nichts, mit Transzendenz aber manches zu tun hatte.

Erstaunlich ist, dass Mutter Julia selbst beim Briefwechsel mit der alten Heimat recht flüssig in lateinischer Schrift schrieb, obwohl das Ruthenische kyrillische Buchstaben verwendet. So konnte die Mutter an der Kunstproduktion ihres Sohnes teilnehmen: Jahrelang beschriftete und signierte sie seine Bilder. Die Retrospektive zeigt mehrere Arbeiten mit ihrer typischen Zackenschrift. Dazu gehört auch die Darstellung eines goldenen Elvis-Stiefels, den Julia fehlerhaft mit „Presely“ kennzeichnete. Pre- als Vorsilbe, -y als Ablaut: den Familiennamen des Sängers schrieb sie als typisch ruthenisches Adjektiv. Eine Bedeutung hatte das Wort nicht. Aber dass es darauf nicht ankam, wusste sie von ihrem Sohn.