Börsennotierter Glitzer-Mainstream

Ein neuer Sender braucht neue ModeratorInnen. Viva plus sucht im ganzen Land nach coolen Gesichtern. Casting heißt dieses Vorsprechen heute – und ist der konservative Weg für all diejenigen, die sich nicht trauen, nackt in Schokomousse zu steigen

aus Berlin HENNING KOBER

Von Aufgeregtheit keine Spur: Das auf dem Potsdamer Platz angekündigte Großcasting für den Viva-2-Nachfolger Viva plus findet in einem Wohnwagen auf dem Parkplatz hinter der Philharmonie statt. „Wir können ja nicht 10.000 Mark für die Platzmiete im Sony-Center bezahlen“, entschuldigt sich André schnell.

André heißt mit vollem Namen André Piefenbrink, aber das ist egal, schließlich arbeitet er in der PR-Abteilung der Viva Media AG. Als im Frühjahr bekannt wurde, dass Dieter Gorny, die Idealverkörperung des fiesen Lehrers, in Zukunft auf das „taktische Tool“ Viva 2 verzichten möchte, klang die prägende Werbebotschaft „Viva liebt dich“ nur noch wie Hohn in den Ohren der Viva-2-Fangemeinde. „Wir können ja nicht nur im Feuilleton Erfolge feiern. Was sollen wir machen, wenn die Industrie keine Werbung bucht?“, argumentiert André erprobt und setzt noch eins drauf: „Schließlich sind wir ein Aktienunternehmen.“

Nana Heymann ist das egal. „Es ist ein Job“, sagt die 24-Jährige mit den langen schwarzen Haaren nüchtern, aber schließlich ist sie ja auch schon fast ein Profi. Es ist nicht ihr erstes Casting, und sie war schon in diversen Musikvideos. Wobei sie „diverse“ betont und plötzlich fragt: „Wo ist denn dein Fotograf?“

Scharf bläst der Wind um die Philharmonie. Ein Viva-Mädchen verteilt blaue Fliesmützen mit dem neuen Viva-plus-Logo. Kein gutes Zeichen, wenn das Einzige, was sich am Ort des Geschehens an Style ausmachen lässt, die goldene Farbe der Philharmoniewand ist.

Digital-Reportage

Dank der guten Zusammenarbeit mit Partner AOL Time Warner und der Musikindustrie habe man das neue Sendekonzept in nur acht Wochen realisieren können, lässt der neue Programmchef Dominik Kaiser, ein Schweizer, der die Züricher Streetparade organisierte, per Pressemappe ausrichten. Wie die Sendungen auf Viva plus später genau aussehen werden, ist jetzt noch nicht ganz klar. Die bald anlaufende Werbekampagne wird Viva plus mit einem „glitzernden Ding“ umschreiben. Na immerhin. Ein paar Infos sind auch der neu eingerichteten Internetseite zu entnehmen. Nadine hat sie als Vorbereitung für das Casting gelesen und fasst kurz zusammen: „Selbst Reportagen mit der Digi-Cam aufnehmen, Leute interviewen, in coole Städte reisen und dann alles per Laptop und Internet übertragen.“ Begeisterter könnte André es nicht formulieren, und so wiederholt er nur noch einmal das ehrgeizige Ziel, CNN des Musikfernsehens zu werden.

Coole Korrespondenten

Zwar erscheint das „weltweite Korrespondentennetz“ mit den Standorten Los Angeles, London, Hamburg, Köln und Berlin noch ausbaufähig, aber „wir können superschnell auf jeden Trend reagieren“, versichert André. Bei dem Casting, das auch schon in anderen Städten stattfand, werden jetzt drei oder vier Moderatoren für Deutschland gesucht.

Die Schlange vor dem silbernen Wohnwagen, der auch schon mal für Kai Pflaumes Sat.1-Show „Nur die Liebe zählt“ im Einsatz war, erstreckt sich inzwischen weit zur Straße hin. Da steht Janine, 20, Studentin der Anglistik, Amerikanistik und Deutschen Philologie, im rosa gefärbten Kunstpelzmantel neben Katharina, 23, der jungen Mutter („Sag bitte Mama, sonst klingt das so alt“), die sich Sorgen macht, weil sie kein Video anmoderieren durfte. Auch ein breiter kräftiger Typ mit Bomberjacke und Zwei-Millimeter-Haaren macht sich Hoffnung auf eine VJ-Karriere.

Drei bis fünf Minuten bleiben jedem Bewerber, um sich vorzustellen, ein, zwei Fragen zu beantworten und, wenn das gut aussieht, vielleicht ein Video anzumoderieren.

Wer zu einem Casting geht, träumt von Platz eins der deutschen Charts, einer Einladung bei Stefan Raab oder wenigstens davon, selbst die Stars zu interviewen, natürlich in coolen Städten. Berlin o.k., am besten L.A., nur nicht in München oder Stuttgart. Ein Casting ist der konservative Weg für all diejenigen, die sich nicht trauen, nackt in Schokomousse zu steigen.

Und der Weg über ein Casting ist hart. Obwohl Nana von Kissen umgeben ist, wirkt sie etwas verloren auf der mintgrünen Bank im Wohnwagen. Jetzt gilt es. Das Bild der Kamera fängt in Großaufnahme das Gesicht des schlanken Mädchens ein, die Hände, die sich in die schwarze Tasche krampfen, sind nicht zu sehen. Sebahat in der schwarzen Viva-Jacke stellt die Fragen und führt die Kamera. Sebahat hat Hunger: „Was ist dein Lieblingsmusikvideo?“ – „Momentan mag ich am meisten ‚More than a woman‘ “ von Aaliyah, es ist ja das letzte von ihr und es sind sehr schöne ...“ „O.k., dann sag das mal auf Englisch an.“ Nana schluckt, ihre Oberlippe lässt sich nicht mehr unter Kontrolle halten, sie zittert leicht: „And now you see Aaliyah, I think she was a great entertainer ...“ Danke, das reicht, der Hunger drängt. Selbst möchte Sebahat keine Fragen beantworten. „Ich gebe keine Interviews.“ Das ist schade. Sie weiß wahrscheinlich am besten, welches Gesicht die Coolness verkörpert, die sich die Herren Gorny, Kaiser und die Freunde von AOL ausgedacht haben. „Wie das dann letztendlich aussieht, weiß ich auch noch nicht“, sagt André. – An der Optik arbeiten momentan noch die Designer. Kühler soll es werden, nicht so quietschbunt wie Viva. Zielgruppe 14 bis 29, Tendenz eher 14 bis 22. Und mehr Mainstream, auch wenn das niemand sagen möchte. Per Telefonvoting werden die Zuschauer das Programm bestimmen, nur solle man sich das bitte, bitte, nicht wie bei Neun Live vorstellen, beschwört André. Außerdem könne man ja immer noch steuern, was auf die Playlist komme: Britney Spears und Backstreet Boys sollen nicht zur Auswahl stehen. Ist das etwas nichts?