Überwachen, strafen und reden

Die Taten, die Schuld, die Zeit, die nicht vergehen will: Hans-Joachim Neubauers Gefängnisreport „Einschluss“

Das größte Gefängnis Deutschlands, die Justizvollzugsanstalt Tegel, liegt mitten in Berlin, ist aber vom Rest der Stadt durch Welten getrennt: planet-tegel.de haben die Inhaftierten ihre schöne Homepage genannt. Hans-Joachim Neubauer, der von 1997 bis 1999 als Dramaturg des Gefangenentheaters „aufBruch“ die Gefangenen interviewte, bezeichnet seine gelungene literarische Collage der Gespräche als „Bericht aus einer verborgenen Stadt“.

In der JVA Tegel sitzen mehr als 1.700 Männer aus fast fünfzig Nationen ein. Das Gefängnis verfügt über eine Kirche, eine Schule, eine Krankenstation, über Werkstätten, Sportplätze, Schule, Tätowierstudios, Friseure und – vielleicht rechtfertigt erst dies den Stadtbegriff – es hat auch einen eigenen Kerker. 1.000 Gefangene arbeiten. Durch den grenzenlosen, monotonen Alltag führt ein fiktiver Erzähler, in dessen Erzählungen und Überlegungen sich die Erfahrungen vieler Gefangener verdichten: Die formlos gewordene Zeit, das Leben ohne Freundschaften, die Machtverhältnisse zwischen den Inhaftierten, das schlechte Essen, Drogen, Prostitution, Einkaufslisten.

Unterbrochen werden seine Schilderungen durch die Erzählungen Einzelner, die in Ich-Form von ihrer Kindheit, ihren Taten, der Schuld, der nicht vergehenden Zeit berichten. Man trifft auf den gewitzten Verbrecher à la Dagobert, der als falscher Autobahnpolizist, „dem Staat auf eigene Kosten ein wenig unter die Arme zu greifen“ beschloss und kräftig Strafgelder einkassierte. Fast wie aus einem alten Schwarzweißfilm mutet der Einbrecher an, der das Handwerk noch ordentlich vom Onkel erlernte und die „Berufsehre“ hochhält, die Einbrüche bei Privatpersonen und Waffeneinsatz verbietet. Der Autodieb, der mit seiner Gruppe zu 70 Prozent Versicherungsdiebstahl beging, lässt den Begriff der organisierten Kriminalität glatt in neuem Licht erscheinen.

Nicht nur der Autodieb sieht durch das hohe Strafmaß sein „Rechtsempfinden empfindlich gestört“. Auch das ehemalige Opfer eines Geiselnehmers sieht die Strafe als zu hoch an und verzeiht dem Täter in einer TV-Sendung. Ein Mörder glaubt, dass die von ihm ermordete Frau „bestimmt zufrieden“ sei, dass sie tot ist: Sie habe immer Depressionen gehabt, deshalb sei er eigentlich „ihr Retter“ gewesen. Das Ringen mit der Schuld und der angemessenen Strafe hinterlässt denn auch lesend oft Ratlosigkeit, Sprachlosigkeit, Empörung und Mitleid – nicht nur wenn ein Lebenslänglicher seine Unschuld verteidigt.

Neubauers Buch ist das Gegenteil eines Gutachtens. Es erklärt nichts, urteilt nicht und lässt die blinden Flecken der Erzählungen bestehen: Sei es die Tat oder das Trauma der Schuld. So entsteht eine wirklich schockierende Diskrepanz aus den Schilderungen einzelner grauenhafter Verbrechen und der Versicherung des Erzählers: „Die Tat interessiert keinen. Ob einer ein Mörder ist, interessiert keinen. Auch nicht, ob einer ein Hühnerdieb ist. [. . .] Was aber interessiert, ist, ob einer ein Kind missbraucht hat oder eine Frau vergewaltigt und umgelegt hat. Das will jeder wissen. Wenn so etwas rauskommt, steht man auf der Abschussliste.“

Es ist nahe liegend, in den Erzählungen der Gefangenen eine archaisch anmutende Rede um Schuld und Sühne, um Strafe und Erlösung zu hören. Nicht nur der knastinterne Kerker, auch der Bericht des Erzählers zeigt indes, dass Überwachen und Strafen auch innerhalb der Institution dazugehören: „Er kennt einen in einem anderen Haus, der musste gewissen Gefangenen sein Urteil zeigen, um ihnen zu beweisen, dass er kein Kinderficker ist. Die waren ganz hysterisch und haben alle Gefangenen, die in ihre Teilanstalt kamen, begutachtet und beobachtet.“ Hier zeigt sich weniger Archaisches als vielmehr das Gesellschaftliche der Institution Gefängnis und ihrer Diskurse. Keine Institution – schon gar keine totale – liegt außerhalb der Welt. ELKE BRÜNS

Hans-Joachim Neubauer: „Einschluss“. Berlin Verlag, Berlin 2001, 167 Seiten, 18,39 € (36 DM)