Westangebunden

Sprachrohr im Schaumbad: Das Kursbuch ehrt seinen verstorbenen Herausgeber Karl Markus Michel im BE

Der Lauschangriff auf die kritische Theorie kam aus dem Souterrain. Ende der 50er-Jahre saß hier Karl Markus Michel, „Mädchen für alles“ am Institut für Sozialforschung, und beobachtete, wie sein Chef Max Horkheimer auf dem Trottoir mit den Nutten des Frankfurter Westends plauderte. Das war damals Herrschaftswissen. Horkheimer musste sich aber nicht sorgen.

Der vor einem Jahr verstorbene Kursbuch-Herausgeber Michel gehörte zu den diskreten Zeitgenossen. Davon kann sich überzeugen, wer in den Erinnerungen alter Freunde liest, mit denen das gerade erschienene und Karl Markus Michel gewidmete Kursbuch „Vorbilder“ aufmacht. Am Sonntag wird es im Berliner Ensemble vorgestellt. Michel, dessen Lebenslauf (Adornit, Suhrkamp-Lektor, Kursbuch) ein schöner Bildungsroman der alten Bundesrepublik ist, war ein Einzelgänger, der in den linken Lebenswelten seiner Zeit nie ganz heimisch wurde. Tilman Spengler berichtet von einer gemeinsamen Außenrecherche (“Folgen des Deutschen Herbstes für die Linke“) auf schwerem Gelände. Eine schwäbische Landkommune setzt Michel, dem 1929 in Hongkong geborenen Städtebewohner, arg zu. Entenkot beschmutzt die Troddeln seiner weißen Slipper, und als wäre das noch nicht genug, zerreißt kurz darauf die Sprungfeder eines Sperrholzsessels den Hosenumschlag.

Und Christoph Ransmayr erzählt in dem wohl rührendsten Beitrag, wie er seinem Freund an einem Steilhang der Caha Mountains auf der Halbinsel Beara im Südwesten Irlands ein „Steinmal“ errichtete.

Bei diesen elegischen Tönen gerät leicht in Vergessenheit, dass Karl Markus Michel eine Zeitschrift leitete, die „Sprachrohr des Protestes“ war. Wer in den 60er- und 70er-Jahren wissen wollte, ob der Zeitgeistzug pünktlich kommt, schaute ins Kursbuch. Die Auflage überschritt oft die Hunderttausend-Schwelle; Fidel Castro beehrte die Zeitschrift mit seinen Marathonreden. Zur moralischen Aufrüstung der Nation trug das Kursbuch bei; streng marxistisch war es aber nie. Das konnte es auch gar nicht, weil mit Enzensberger und Michel zwei Flaneure federführend waren. Aber wer kann es den Kursbuch-Machern verdenken, dass sie sich heute auch um „neue Liebesstellungen“ und andere Nebenwidersprüche kümmern oder – horribile dictu – sich sogar manchmal ein Schaumbad genehmigen?

Wie kaum ein anderes Medium repräsentiert das Kursbuch die zu sich selbst gekommene späte Bonner Republik. Zur Westbindung, auf die sich die Politiker so viel zugute halten, hat sie ihren gehörigen Teil beigetragen. Man blättert in den alten Kursbüchern wie in einem Lesebuch der Bundesrepublik. Ob sich auch im Wartesaal der Neuen Mitte genügend Freunde des intellektuellen Zickzacks finden, wird sich zeigen. Michel wiederum war ein Massenorgan immer suspekt: Am liebsten hätte er eine Zeitschrift für „sieben oder acht“ Leute gemacht.

STEPHAN SCHLAK

Sonntag, 9. Dezember 11.00, Berliner Ensemble, Mitte