Wellness pur: die Karawanen-Kur

Vom Wandern im Wind: Was uns am Trekking mit Tieren so fasziniert. Es ist die ursprünglichste und umweltfreundlichste Form des Reisens und bedeutet vor allem heilsame Monotonie, tranceartige Selbstvergessenheit, Bewegungsmeditation

von STEFAN SCHOMANN

Erst seit rund zwanzig Jahren gibt es Karawanenreisen als touristische Spezialität. Diese ein- bis zweiwöchigen Exkursionen mit Pack- und Reittieren führen bevorzugt durch jene unwegsamen Gefilde, in denen Karawanen von alters her die einzigen Transportmittel darstellen. In erster Linie also durch den riesigen altweltlichen Trockengürtel, der von der Westsahara bis nach Tibet reicht. Den Klassiker bildet die Kameltour durch die Sahara, zur Abwechslung auch mal durchs jordanische Wadi Rum oder in die Wüste Gobi. Aber auch Lamatrekking auf dem Inkatrail, Reitferien in den Rockys, Schlittenhundetouren in der Arktis oder Elefantenritte in Thailand fallen darunter. Landestypische Nutztiere dienen als Gepäckträger und zugleich als Botschafter ihrer Kultur.

Diese romantische Form des Reisens tritt just zu dem Zeitpunkt in Erscheinung, da die traditionellen Karawanen verschwinden. Wo immer heute eine Piste angelegt wird, sind die Tage der Lasttiere gezählt. Durch die Lavawüste von Dschibuti befördern Kamele seit Jahrhunderten Salz aus den Senken an die Küste. Im Zuge eines Entwicklungshilfeprojekts wurde vor fünf Jahren eine Stichstraße zu den Salzseen angelegt, übrigens auf der Trasse des Karawanenwegs. Heute sieht man dort neben den dröhnenden Lkws noch kleinere Kamelkonvois ziehen. In weiteren fünf Jahren dürfte es keine Kamele mehr geben.

Ein historischer Prozess, wie er weltweit zu beobachten ist. Die seit Menschengedenken unentbehrlichen Tiere, die noch für den Vater das kostbarste Gut darstellten, werden vom Sohn ausrangiert. Diese Entwicklung sehen wir wohl nur deshalb mit wehmütigem Blick, weil sie im industrialisierten Westen längst abgeschlossen ist, spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg.

Damals bescherte die Mangelwirtschaft der Kriegszeit Europas Nutztieren noch einmal eine Renaissance. Erinnert sei an die Flüchtlingstrecks oder an die polnische Kavallerie, die sich in donquichotteskem Heldenmut den Panzern der Wehrmacht entgegenwarf. Seither jedoch sind Tiere als Arbeiter aus unserer Lebenswelt verschwunden – um zugleich in veränderter Funktion fröhliche Urständ zu feiern: als Freizeitgeräte, Prestigeobjekte, Partnerersatz und eben als Reisegefährten.

Puristen mögen diese Karawanentouren als Karikatur, womöglich gar als Prostitution der althergebrachten Lebensweise erscheinen. Doch sie gelten auch als Musterbeispiel für sanften Tourismus. Rudi Hoffmann, einer der Pioniere des Genres: „Sie bilden die ursprünglichste, traditionellste und umweltfreundlichste Form des Reisens.“ Die örtlichen Viehzüchter, Ausrüster und Begleiter profitieren direkt davon. Die Infrastruktur wird in Schuss gehalten, das jahrhundertealte Know-how bewahrt.

Als Figur, als geschlossene Formation, sind Karawanen sogar älter als die Menschheit. Praktisch alle Herdentiere ziehen im Gänsemarsch zu ihren Weidegründen und Wasserstellen. In der Trockenzeit machen die Gnus in der Serengeti sich in endloser Kolonne ins Ungewisse auf, ein Heerzug von einem Horizont zum anderen. Elefanten bilden regelrechte Seilschaften, wenn die Kälber mit den Rüsseln die Schwänze der Erwachsenen halten. Frei lebende Pferde gehen auf längeren Strecken ebenfalls eins hinter dem anderen. Sie folgen dabei ausgetretenen Wechseln. So bilden sich Wandertraditionen, so entstehen Wege. Viele der Pionierstraßen im amerikanischen Westen folgten den von Büffelherden planierten Trassen; sie heißen heute noch bufallo roads. Auch vielen Alpen- und Pyrenäenpässen haben die Hirtenpfade den Weg bereitet.

Warum eigentlich wandern die Tiere nicht nebeneinander oder, wie während des Weidens, in lockerem Haufen? Einmal weil es Kräfte spart. Je dichter die Vegetation und je schwieriger das Gelände, desto mühsamer ist es, sich einen Weg zu bahnen. Aber auch Sand und Schnee veranlassen zum Gänsemarsch. Wobei wohl nur Menschen direkt in die Fußstapfen ihrer Vorgänger treten, um noch ein Quäntchen mehr Energie zu sparen. Beeindruckendes Beispiel für diese Technik sind die 3,6 Millionen Jahre alten Fußabdrücke von Laetoli in Tansania, bei denen lange umstritten war, ob es sich nun um zwei oder drei Individuen handelte – weil nämlich einer offenbar genau in den Fußstapfen des Vordermanns oder der Vorderfrau gegangen war. Nach einem Vulkanausbruch war der Boden knöcheltief mit Flugasche bedeckt gewesen.

Neben der Effizienz spielt Sicherheit eine Rolle: Wo das Leittier unbeschadet seiner Wege ging, kann auch ich getrost passieren, ohne Treibsand, Fallgruben, Gletscherspalten befürchten zu müssen. Ein guter Trampelpfad wird so verlaufen, dass möglichst keine Leoparden im Hinterhalt liegen oder Löwen sich unbemerkt anschleichen können. Dem Pferdeforscher Klaus Zeeb fiel überdies auf, dass die Wege nie schnurgerade verlaufen, sondern in leichten Schlangenlinien. Dabei verfügen Pferde über eine beinahe perfekte Rundumsicht – aber eben nur beinahe, nämlich etwa 340 Grad. Die geringfügigen Richtungswechsel gleichen den toten Winkel aus.

Wer dagegen neue Wege jenseits der ausgetretenen Pfade beschreitet, riskiert etwas. Erweist die Alternative sich als vorteilhaft, wird rasch eine neue Tradition daraus, im umgekehrten Fall erledigt sie sich von selbst. So kommt es zu einer Evolution der Wege. Wobei diese immer gleich schmal bleiben, nicht viel breiter als zwei Hufe. Selbst in Ballungsgebieten, zwischen Weide und Tränke etwa, werden sie nicht breiter, allenfalls laufen dort mehrere Stränge parallel.

Die Fortbewegung im Gänsemarsch entlastet aber nicht nur physisch, sondern auch mental. Während ich dem erfahrenen Leittier hinterhertrotte, kann ich abschalten und mich dem steten, rhythmischen Andante der Abteilung überlassen. Diese heilsame Monotonie macht ein gut Teil der Faszination von Karawanenreisen aus: das Metrum der Schritte, das Einswerden mit der Bewegung, die tranceartige Selbstvergessenheit. Das Wandern mit Tieren gerät zur Bewegungsmeditation, zur Zen-Reise. Hinzu kommt, dass auch bei uns ein evolutionäres Erbe wirksam ist, auch wir sind schließlich Steppenwanderer und fühlen uns in der Bewegung durch halb offene Landschaften bestens aufgehoben.

Freilich sind wir heutzutage, bitte schön, Individualisten. Früher oder später packt uns die Neugier, und wir scheren aus dem Verband aus. Und schon werden die Sinne schärfer, die Schritte vorsichtiger, die Frühwarnsysteme aktiviert. Dabei handelt es sich um klassisches Erkundungsverhalten, wie es höheren Primaten serienmäßig einprogrammiert ist. Ich bin neugierig, also bin ich. Haben wir schließlich genug gesehen, reihen wir uns wieder ein in die Kolonne und verfallen in den guten alten Trott.

Karawanenreisen erfordern eine gewisse Mindestlänge, was die Zahl sowohl der Tiere als auch der Tage betrifft. Zwei Kamele machen noch keine Karawane. Sechs oder sieben dann aber schon, und ein Dutzend bietet gar einen stattlichen Anblick. Sehr viel größer sind Freizeitkarawanen wiederum nicht, weil sie sonst in Massentourismus ausarteten und überdies in Untergruppen zerfielen.

Wie lange ist man unterwegs, bis das Karawanengefühl sich einstellt, die Geborgenheit im Gleichmaß der Bewegung? Der erste Tag reicht dafür nie aus, zu neu, zu aufregend wirkt alles. Auch der zweite verläuft noch unruhig und suchend. Meiner Erfahrung nach vollzieht sich die Wandlung erst am dritten Tag ganz. Oder aber es treten dann die ersten ernsthaften Probleme auf. Da dieser Prozess offenbar symmetrisch abläuft, hat sich ein Zeitraum von einer Woche als Grundmaß bewährt. Dauert die Tour zwei Wochen, währt die Plateauphase entsprechend länger. Ginge sie noch weiter, würde vermutlich eine neue Stufe erreicht und die Zeit selbst, die Karawane der Tage, zur primären Erfahrung. Verglichen mit den großen Überlandstrecken der Welt, sind all das nur Spazierritte: Auf der Seidenstraße waren die Kaufleute sechs Jahre unterwegs, bis sie von China ans Schwarze Meer und wieder zurückgelangten – wenn sie zurückgelangten.

Während der gesundheitliche Wert einer solchen Tour – Bewegung, Enthaltsamkeit, natürliche Lebensrhythmen – von den Teilnehmern hoch geschätzt wird, spielt sportlicher Wettstreit kaum eine Rolle. Die Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, die Karawane kommt am ehesten gemeinsam ans Ziel. Auch dieses Prinzip ist biologisch vorgeprägt – der vermeintliche Altruismus der Herde, das Zusammenhalten um beinah jeden Preis, entpuppt sich als Egoismus höherer Ordnung. Eine vielköpfige Gruppe erhöht die Chancen aller, eine Attacke zu überstehen. Statt durch schwächere Mitglieder behindert zu werden, profitieren gerade die ranghöchsten Tiere davon, die im Fall einer Flucht fast immer gut abgeschirmt in der vorderen Mitte des Pulks zu finden sind.

Die Selbstlosigkeit hat freilich Grenzen. Eine professionelle Karawane wird tunlichst keine Touristen mitnehmen. Die besitzen weder die Erfahrung noch die erforderliche Kondition, sie wollen plaudern, fotografieren, die Tiere tätscheln und alle naselang rasten. Ihnen ist nicht bewusst, dass es hier um ein Geschäft geht. Dass die Karawane keinen anderen Sinn hat als den, ihre Waren möglichst rasch, möglichst sicher und möglichst vollzählig ans Ziel zu bringen. Einem Targi oder einem Kirgisen käme nichts weniger in den Sinn, als Trekking zu betreiben: Nomaden gehen nicht spazieren. Sie gehen überhaupt nur ungern, wenn irgend möglich reiten sie. Als die Mongolen halb Eurasien eroberten, staunten die erdverbundenen Europäer nicht schlecht, dass dieses Reitervolk im Sattel aß, trank und seine Notdurft verrichtete, ja sogar im Sattel schlief. Für uns Sonntagsnomaden dagegen gibt es nichts Schöneres als eine Pause, ein Picknick, ein Palaver. Für diese Form der Karawanen-Kur gilt die abgedroschene Phrase, dass der Weg das Ziel sei. Oder, mit den Worten eines indischen Weisen: „It’s not the road you walk, it’s the walking.“