Eine Lehre für den Petersberg

Die Geschichte Afghanistans zeigt: Reine Männerherrschaft deformiert eine Gesellschaft; Fundamentalismus lässt sich nur besiegen, wenn die Frauen gestärkt werden

Der Krieg wurde versteckt wie eine afghanische Frau. Es war ein Krieg ohne Bilder, hinter einem Schleier.

Von den 25 Delegierten, die auf dem Bonner Petersberg eine Übergangsregierung für Afghanistan aushandeln, sind drei weiblich. Unter den Beratern sind ebenfalls einige Frauen, darunter dem Vernehmen nach auch eine Vertreterin der Frauenorganisation Rawa. Angesichts einer Bevölkerungsmehrheit von geschätzten 52 bis 60 Prozent Frauen ist das zwar noch nicht viel, aber doch mehr als erwartet. Ein Anfang. Eine kostbare Chance. Ein solch günstiger Zeitpunkt, um Frauenrechte durchzusetzen, kommt vielleicht nie wieder.

Dafür gibt es mindestens drei Gründe. Erstens: Der Exkönig möchte sich gern als Frauenförderer profilieren. Zweitens: Die Nordallianz ist zwar von Fundamentalisten, Kriegsverbrechern und Massenvergewaltigern durchsetzt, aber daran interessiert, ihr Image zu modernisieren. Drittens: Die US- Regierung hat in Gestalt der Präsidentengattin gerade neu entdeckt, dass die Taliban Frauen grausam unterdrückt haben.

Allerdings war das ein recht durchsichtiger Versuch, den Krieg als Frauenbefreiungskrieg zu legitimieren. Die Bombardements haben Frauen in die Flucht geschlagen, verletzt und getötet, aber nicht befreit – wenn sie denn überhaupt schon befreit sind. Der Blitzsieg der Nordallianz war nur möglich durch massive Bestechungen der Taliban-Kommandanten und anschließende Massendesertation. Die traditionell bewährte und einzig mögliche Strategie zur Eroberung Afghanistans hat auch hier ihre zuverlässige Wirkung entfaltet. Kriegsbefürworter müssen sich deshalb die Frage gefallen lassen, warum nicht viel früher zu diesem unblutigen Mittel gegriffen wurde, warum nicht eher nach dem 11. September? Oder am besten noch davor? Vielleicht weil es den Hauptförderern von Taliban & Co. in Saudi-Arabien, Pakistan und den USA damals noch nicht in den Kram passte?

Um kurzsichtiger Interessen willen haben die US-Regierung und ihre Verbündeten jahrelang massivste Menschenrechtsverletzungen an Frauen geduldet, nein sogar gefördert. Sie haben damit Ungeheuer herangezüchtet und ganze Gesellschaften deformiert. Das ist eine Lehre, die hoffentlich auch auf dem Petersberg präsent ist.

Zur Erinnerung: Milliarden von CIA-Geldern und Petrodollars flossen in den Förderverein zur Stärkung von Fundamentalismus und Terrorismus e. V. in Gestalt des pakistanischen Geheimdienstes und der von ihm finanzierten Koranschulen. Selbst die Höhlenbunker, in denen sich Bin Laden nun mutmaßlich versteckt hält, wurden laut Spiegel von der CIA finanziert.

In den Koranschulen wurde eine rein männliche Monokultur herangezüchtet – ein Sozialexperiment ohnegleichen. Tausende entwurzelter afghanischer Flüchtlingskinder, ohne Mutter, Schwester oder Cousine aufgewachsen, lebten hier ausschließlich unter Männern. Die Mullahs lehrten ihre Zöglinge, dass Frauen unrein seien, verführerisch, schmutzig, unzuverlässig und dämonisch. Der Schleier sei ein Schutzschild, er solle die Männer abhalten von der Sünde, vom Bösen.

Aber auch die Männer wuchsen hinter einem blickdichten Vorhang auf. Wie Frauen aussehen, denken, handeln, geriet für die Taliban und die aus anderen Ländern der totalen Geschlechterapartheid stammenden Al-Qaida-Krieger zu einem bedrohlichen Geheimnis. „Der Feind ist das, was du nicht kennst“, besagt ein arabisches Sprichwort. Die Frau, das unbekannteste Wesen, Symbol der Sünde und des Schmutzes, wurde weggesperrt und strengstens kontrolliert. Vor dem Vorhang die Männer, dahinter die Frauen. Davor das Gute, dahinter das Böse. Dazwischen nichts. Alles Ambivalente und Abweichende geriet zur Bedrohung einer wackeligen, unreifen Männlichkeit, die sich nur über Kampf und Krieg zu stabilisieren wusste. Männer, denen andere Männer Verstand und Gefühle verschleiert haben, die um Leben, Lust und Glück betrogen wurden, können zu Killern werden, Opfer und Täter zugleich. Bomben auf zwei Beinen, jederzeit zur Explosion bereit.

Die Todeskultur von Taliban und al-Qaida ist eine besonders bizarre Abart der Frauenunterdrückung im Islam. Die Ursachen dafür sind komplex und am wenigsten in der Religion selbst begründet. Erst die Blockade ökonomischer Entwicklung durch westlichen Neokolonialismus und die stete Verweigerung von Demokratie durch hausgemachte autoritäre Regime haben Muslime zu Fundamentalisten gemacht. Der Islamismus wurde aber auch deshalb mächtig, weil er der Hälfte der Unterdrückten ein Ventil für unaushaltbare Spannungen bot: Besitzlose Männer deklarieren Frauen zu ihrem Privatbesitz; ausgeschlossene Männer schließen Frauen aus; erniedrigte Männer erniedrigen Frauen.

Bei den Taliban wurde eine rein männliche Monokultur gezüchtet – ein Sozialexperiment ohnegleichen

Doch auch der Westen inszeniert Verschleierungen. Der Krieg wurde versteckt wie eine afghanische Frau. Es war ein Krieg ohne Bilder, seinen Schleier sollten wir nicht lüften, sein wahres Gesicht nicht sehen. Die Flüchtlingsströme, die Hungernden, die Toten und Verletzten – nichts davon wurde im Fernsehen sichtbar, also existiert es in unserer Medienwelt auch nicht. Taliban und Amerikaner warfen gemeinsam den Schleier über die Frauen, über die von Streubomben, Hunger und Kälte bedrohte Zivilbevölkerung. Bevor Kabul fiel, war von Frauen und Frauenrechten nirgendwo die Rede. Vor der Kriegswende auf dieses Thema angesprochen, versicherte ein Sprecher des US-Außenministeriums noch, man habe derzeit „andere Prioritäten“, außerdem wolle man doch niemandem die eigenen kulturellen Werte „aufdrücken“.

Fundamentalismus ist jedoch auf Dauer nur dann zu besiegen, wenn die Frauen gestärkt werden. Bitte merken und mitschreiben: Die Frauenfrage ist keine Frauenfrage ist keine Frauenfrage. Sie ist die Schlüsselfrage des Islam, sie ist für beide Geschlechter existenziell, und wenn sie nicht gelöst wird, wird nichts gelöst. Ob Frau oder Mann: Wer mit verschleierter Vernunft und verschleierten Gefühlen aufwächst, inmitten traumatischer Erfahrungen von weiblicher Ohnmacht und männlicher Gewalt, der ist unfähig zu ziviler Zukunftsgestaltung.

In Afghanistan haben beide Geschlechter diese Erfahrung in extrem zugespitzter Form machen müssen. Sowohl bei den Taliban als auch bei der Nordallianz hat eine ganze Männergeneration keinen einzigen Buchstaben, dafür aber schon ab 14 Jahren das Töten gelernt. Dass die Nordallianz jetzt wieder Massaker und Vergewaltigungen begangen haben soll und eine zweite durch Kabul geplante Frauendemonstration am Dienstag verbieten ließ, ist ein schlechtes Omen. Der Aufbau eines neuen zivilen Afghanistan kann nur dann gelingen, wenn die internationale Gemeinschaft strikt auf die Stärkung der Frauen auf allen Ebenen achtet: von der Übernahme der Nahrungsmittelverteilung auf lokaler Ebene über die Festschreibung der Frauenrechte in der Verfassung bis zum Ministerposten. Oder noch besser umgekehrt. UTE SCHEUB