Nicht Angst, Mut machen

■ Sexueller Missbrauch an Kindern – derzeit ein großes Thema: Zu einer Informationsveranstaltung von Schattenriss kamen rund 100 Eltern

Der Saal im Bürgerzentrum Neue Vahr ist proppenvoll. Dennoch ist es auffällig leise. Kaum jemand flüstert oder quatscht. Rund 100 Mütter und Vater richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf Ingrid Hebel – und auf ihre Kolleginnen von Schattenriss, einer Bremer Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen.

„Seit das Thema durch den Tod von Adelina und Dennis so nah an uns herangerückt ist, können wir die vielen Anfragen nicht mehr bewältigen“, sagt Diplom-Pädagogin Hebel. Deshalb haben sie diese Woche in die Neue Vahr eingeladen.

„Ich wohne in der Nähe der Psychiatrie beim Krankenhaus Ost“, sagt eine Mutter. „Wie hoch ist die Gefahr, dass einer aus der Psychiatrie flieht und meinen Kindern etwas antut?“ Ingrid Hebel erklärt sachlich, dass Gefahr von Psychiatrie-Patienten ausgehen kann. Dass auch das Risiko eines Rückfalls durchaus gegeben sei. Allerdings seien Täter bei sexuellen Übergriffen gegen Kinder in den seltensten Fällen Fremde. „Meist sind es Onkel, Vater, Großvater oder Familienfreund, die die Kinder in einem Abhängigkeitsverhältnis ausnutzen, um sich selbst sexuell zu befriedigen.“ Bundesweit wurden im vergangenen Jahr 15.581 Fälle von sexuellem Missbrauch angezeigt, die Dunkelziffer liege tatsächlich aber viel höher. Je näher der Täter der Person stehe, desto schwerer falle es Betroffenen, ihn anzuzeigen, erklärt die Pädagogin. Vor allem dürften Sexualverbrechen nicht verharmlost werden, warnt sie. „Sexueller Missbrauch passiert nie aus Versehen, sondern ist geplant und findet in der Regel nicht nur einmal statt.“

Äußerlich sichtbare Anzeichen für sexuelle Übergriffe können Verletzungen sein, Schlafstörungen, Konzentrations- oder Sprachstörungen. Auch ständiges, sehr gründliches Waschen, aggressives Verhalten, das Abkapseln von Familie und Freunden oder für das Alter der Kinder unangebrachte Wörter im Sexualbereich können auf einen Missbrauch hindeuten.

Besorgte Eltern können mit solch allgemeinen Beschreibungen oft wenig anfangen. Eine Mutter will es genau wissen: „Woher weiß ich, welche Wörter oder Verhaltensweisen für das Alter meines Kindes angebracht oder unangebracht sind?“ „Dafür gibt es keine festen Regeln“, räumt Ingrid Hebel ein. Bei der Entwicklung eines Kindes hänge viel vom Umfeld ab. „Aber wenn ihnen etwas Übersteigertes auffällt – etwas, was vorher nicht da war“, dann sei äußerste Vorsicht geboten. Kinder müssten ihren Körper erforschen dürfen, aber „wenn sie ein ungutes Gefühl haben, wenn Doktorspiele etwas Ritualisiertes haben“, sei verstärkte Aufmerksamkeit angebracht. „Kinder machen oft nichts anderes, als das Erlebte weiterzugeben.“

„Ist Angst schlimm, oder ist ein gewisser Respekt doch ganz gut?“, ist eine weitere Frage aus dem Publikum. „Angst ist nicht gleich Angst“, so Hebel. Konkrete Angst, zum Beispiel vor einem Auto, sei nützlich. Allgemeine Angst, zum Beispiel vor Fremden, aber nicht konstruktiv. Angst sei jedoch vor allem ein Zeichen dafür, dass irgendetwas das Kind stark beschäftige. Und dem gelte es nachzugehen.

Aber wie? „Machen sie den Kindern keine Angst, sondern Mut.“ Um über mögliche Sexualvergehen zu sprechen, dürfe man nicht mit der Tür ins Haus fallen und alles auf einmal auspacken, erklärt Hebel. Eltern sollten immer wieder zum Erzählen animieren und den Kindern beibringen, zwischen guten Geheimnissen und schlechten zu unterscheiden. „Schlechte Geheimnisse sind die, die Bauchschmerzen machen, und die darf man auch weitererzählen.“ Genauso gebe es tolle Spiele – und solche, die nur Erwachsene spielen sollten. Nein-Sagen sei erlaubt. „Es ist ein Kinderrecht, unhöflich zu sein“, sagt Hebel – und das Publikum kichert sogar. Nach einer Stunde Vortrag und vielen Fragen ist es den Frauen von Schattenriss gelungen: Die Eltern diskutieren sehr frei miteinander. Und noch immer sind nicht alle Fragen beantwortet.

„Was mache ich eigentlich, wenn mir ein Kind auffällt?“, fragt eine Erzieherin. Wichtig sei dabei, so Hebel, das Umfeld gut zu beobachten. „Manchmal ist es zu früh, um die Mutter zu benachrichtigen“, vermittelt die Pädagogin. Wenn Mütter in die Abwehr gingen oder ihre Kinder schützen wollten, könne es auch passieren, dass sie diese abschirmen. Zusätzliche Isolation sei aber nicht gut für die Kinder. Am besten sei es, professionelle Hilfe zu holen – zum Beispiel bei Schattenriss.

Britta Schatz