Für fünf Gramm ins Drive-in

aus Venlo HENK RAIJER

Auf deutscher Seite staunte man nicht schlecht. Zwei zusätzliche Coffeeshops direkt an der Grenze – dort, wo deutsche Drogenkunden legal und bequem wie einen Hamburger ihr Dope kaufen können? Das soll Venlos neue Anti-Drogen-Offensive sein? „Marihuana-Drive-in an der deutsch-holländischen Grenze“, titelte die New York Times. Auch die britische Times schlug Alarm: „Die Stadt Venlo plant McDope in früherem Zollamt.“

Was in Deutschland, wo Hollands liberale Drogenpolitik (siehe Kasten) ohnehin als Teufelswerk gilt, mancherorts blankes Entsetzen hervorrufen mag – der Ankauf zweier Immobilien „für den legalen Verkauf weicher Drogen deutlich außerhalb der Innenstadt“ –, ist tatsächlich in Vorbereitung. In Wirklichkeit jedoch ist die Zunahme genehmigter Coffeeshops von derzeit fünf auf sieben nur ein Teil der neuen Strategie der Venloer Stadtverwaltung: In einer konzertierten Aktion, an der sich neben Polizei und Justiz auch das Finanzamt sowie die Steuer- und Zollfahndung beteiligen, will die Stadt den seit Öffnung der Grenzen dramatisch angestiegenen illegalen Handel mit weichen Drogen bekämpfen und der damit einhergehenden Kriminalität im Stadtzentrum ein Ende machen. Der Hausputz nennt sich „Operation Hektor“.

Das zunächst auf vier Jahre angelegte, knapp 20 Millionen Mark teure Projekt, das die Zustimmung aller Ratsfraktionen der 89.000-Einwohner-Stadt an der Maas fand, hat drei Ziele: Erstens die Schließung jener Häuser, in denen zurzeit illegal verkauft wird; zweitens den Ankauf dieser Häuser, um Mieter und „normale“ Gewerbetreibende zurück ins Zentrum zu holen; und drittens das genehmigte Angebot an weichen Drogen der gestiegenen Nachfrage deutscher Kunden anzupassen, ohne dass dadurch Attraktivität und Lebensqualität der Stadt in Mitleidenschaft gezogen werden.

„Durch die Zunahme des Drogentourismus aus Deutschland sind Teile der Innenstadt total verlottert“, erklärt Jos Peeters, einer der Koordinatoren von Hektor. „Viele Anwohner und Geschäftsleute sind weggezogen, Venlo hat das Feld den Dealern überlassen.“ Nur durch rigides polizeiliches Vorgehen gegen Straßendealer und Käufer illegaler Drogen sowie durch Verdrängung der Händler aus dem Zentrum könne man die Stadt zurückerobern, so Peeters. Zwei zusätzliche Coffeeshops an der Peripherie, in denen deutsche Kunden ihren Bedarf legal decken könnten, seien doch eine tolle Idee, findet der 49-jährige Jurist. „Ziel unseres Konzepts ist: das Angebot reduzieren, den Verkauf regulieren.“

Drogenmekka Venlo

Die Probleme begannen mit Schengen. Seit 1995 ist Venlo, „Butterfahrern“ von Rhein und Ruhr seit Jahrzehnten ein Begriff, für junge Deutsche das Einfallstor zum Drogenmekka Niederlande. Die Gefahr, vom Bundesgrenzschutz (BGS) mit Marihuana oder Gras im Gepäck erwischt zu werden, ist seit der Öffnung der innereuropäischen Grenzen relativ gering. Neben den oftmals über 10.000 Schnäppchenjägern aus der Bundesrepublik kommen heute täglich 3.000 bis 4.000 deutsche Drogentouristen nach Venlo, die schon knapp hinter der Grenze von „Runnern“ abgefangen werden. Ein Teil der meist jugendlichen Kunden kennt die fünf genehmigten, behördlich kontrollierten Shops, in denen sie einen Joint rauchen oder die zulässige Menge von fünf Gramm Marihuana für den eigenen Gebrauch mitnehmen können. Die meisten jedoch lassen sich von Runnern zu den illegalen Verkaufsstellen schleppen. Hier gilt die Fünf-Gramm-Regel nicht, der Käufer bleibt anonym, und der Stoff ist billiger.

Die durch die Öffnung der Grenzen gestiegene Nachfrage ließ die Zahl solcher Läden schnell auf über sechzig steigen, und das in einem relativ kleinen Viertel in unmittelbarer Nähe des Maasufers. Die Folgen: Krach, Gestank und Kriminalität. Anwohner fühlen sich durch nächtliches An- und Abfahren von Autos, Pöbeleien auf der Straße und Urinieren in ihren Hausfluren belästigt. Straßenhändler meist türkischer oder marokkanischer Herkunft sprechen Passanten an, schüchtern sie ein, hindern sie am Weitergehen.

Hektor steht für die Wiedereroberung des öffentlichen Raums. Wie der Held aus der Mythologie sein Troja gegen die griechischen Invasoren verteidigte, soll die 50 Mitarbeiter zählende Taskforce Venlos Drogenmafia verjagen und eine Vision für den Kiez entwickeln. Der macht, nur wenige Schritte vom „Deutschen Eck“, dem Einkaufsparadies entfernt, einen reichlich verwahrlosten Eindruck: mit Brettern verrammelte Schaufenster, darüber, im Wohngeschoss, von Kugeln durchlöcherte Vorhänge, eine modrige Couchgarnitur im dunklen Hauseingang gleich neben dem Erotikcenter. Am Maasboulevard Ecke Bolwaterstraat, lungern coole Typen mit Sonnenbrille, das Handy stets einsatzbereit. Junge Deutsche irren umher, suchen eine Hausnummer. Dazwischen Hektors Krieger auf der Suche nach der sichtbaren und unsichtbaren Kriminalität.

„30 illegale Häuser haben wir in den letzten Wochen schließen können“, sagt Hektor-Koordinator Jos Peeters. „Jetzt kommt es darauf an, die Dealer zu überführen und aus dem Verkehr zu ziehen. Dann versuchen wir, die Immobilien zu kaufen und für sie eine andere Verwendung zu finden, damit nicht gleich wieder neue Händler einziehen.“ Wenn die Häuser der türkischen Drogenmafia gehörten, sei das nicht einfach, so Peeters. „Aber Hauseigentümer, die ihre Räume einst nichts ahnend Dealern überließen, wollen solche Mieter lieber heute als morgen loswerden.“

Belästigung im Zentrum

Das wollen auch die wenigen verbliebenen Gewerbetreibenden in der Bolwaterstraat. „Meine Stammkunden trauen sich gar nicht mehr hierher“, beklagt sich der Inhaber eines Sportgeschäfts in der Bolwaterstraat über Umsatzeinbußen und eine beträchtliche Wertminderung seines von illegalen Drogenshops umgebenen Ladens. Er regt sich über die Verlogenheit der deutschen Behörden auf: „Die verschieben das Problem nach Holland. Nur weil der Gebrauch von weichen Drogen in Deutschland strafbar ist, haben wir hier die Probleme.“

Das war bis vor kurzem den Stadt- und Kreisverwaltungen jenseits der Grenze nicht recht bewusst. Aufgeschreckt durch die Meldungen über zwei geplante „Drogen-Drive-ins“ haben sich in den letzten Wochen Polizeichefs und Politiker aus Nachbarstädten auf Einladung des Venloer Bürgermeisters vor Ort ein Bild vom Ausmaß der Belästigung machen können, an der die Einwohner ihrer Kommunen nicht ganz unschuldig sind. „Wir waren überrascht, dass die Probleme so groß sind. Das war uns in Deutschland nicht klar“, sagte nach einem Rundgang durch den Kiez die Vorsitzende der SPD-Fraktion Nettetal, Renate Dyck, dem Dagblad De Limburger. Nach Gesprächen im Rathaus zeigte sich Dyck überzeugt, dass „so ein geduldeter Laden besser zu kontrollieren (ist) als 65 illegale Coffeeshops“. Und: „Hektor könnte Erfolg haben.“

Hilfe für Hektor

Ein wesentlicher Teil der Operation Hektor ist die Zusammenarbeit mit den deutschen Partnern. „Hektor ist eine einmalige Chance, das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. Auch für uns“, weiß Hans-Josef Kampe, Geschäftsführer des CDU-Kreisverbands Viersen. Viermal sei er in den letzten Jahren zu Gesprächen in Venlo gewesen, so Kampe. „Immer wieder hab ich denen gesagt: Ihr müsst das Angebot verringern.“ Auch habe er „den Holländern“ versichert, die deutsche Seite wolle Venlo mit den Problemen keineswegs allein lassen. Viersens Polizeichef hat inzwischen angeboten, Beamte für Hektor abzustellen.

Neben dem grenzüberschreitenden Austausch über die Bekämpfung der Drogenkriminalität informiere man daheim Jugendliche in Schulen und Freizeitheimen über die gestiegenen Risiken beim Erwerb illegaler Drogen in Holland. „Wir erzählen den Kids, dass Käufer in Holland jetzt genauer beobachtet werden, dass der BGS die Grenzkontrollen verschärft“, sagt Kampe, der auch Vorsitzender der örtlichen Drogenberatung ist. Viersen setze auf eine Kombination von Aufklärung, Repression und Entmutigung. „Lasst uns die Grenze an der A 61 für eine halbe Stunde dichtmachen. Ich bin sicher, dass da jede Menge Jugendliche ins Netz gehen, die sich dann genauer überlegen werden, ob oder bei wem sie künftig Drogen kaufen.“

Natürlich reagiert die Venloer Drogenmafia auf die Säuberungsaktion. Seit Schließung etwa der Hälfte der illegalen Läden wird im Zentrum aus Autos heraus verkauft. Oder die Zelte werden anderswo in der Stadt aufgeschlagen. Obwohl genau das die Hektor-Taskforce ja verhindern will. Bis Mitte 2005 wird sich zeigen, ob Hektor als Name eine glückliche Wahl gewesen ist. Der Held der Antike unterlag am Ende nach dramatischem Kampf dem Griechen Achilleus. Sein Troja zerstört wurde.