Die Pointe im richtigen Moment

Er hat nichts gegen die beiläufigen Effekte eines Stephen Kings und auch nichts gegen die Erzeugung von Frauentränchen. Sein eigentliches Vorbild aber ist Peter Bichsel: Eine Begegnung mit dem diesjährigen Open-Mike-Preisträger Tilman Ramstedt

von ANSGAR WARNER

Kaum habe ich in einem Hinterzimmer der Kneipe „EntwederOder“ in der Oderberger Straße im Prenzlauer Berg Platz genommen, da kommt auch schon ein junger Mann mit regendurchnässtem Ledermantel und windzerzaustem Haar auf mich zu. Ein bisschen zerstreut sieht er aus. „Bin ich zu spät!?“, fragt er, setzt sich an den Tisch und bestellt nach kurzem Überlegen ein nichtalkoholisches Getränk. Dann zündet er sich eine Cabinet-Zigarette an.

„Die letzten Tage waren doch ein wenig anstrengend“, kommentiert er und holt erst einmal etwas Atem. Tilman Ramstedt, der Gewinner des 9. Berliner „Open Mike“-Literaturwettbewerbes, hat seit dem Wochenende nicht mehr viel Ruhe gehabt. Das Leben gehe weiter, klar. Doch es sei schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man plötzlich die Taschen voller Visitenkarten renommierter Verlage hat, meint Ramstedt, dessen Schreibstil laut Jury-Mitglied Adolf Muschg „eindeutig den Schriftsteller erkennen“ lasse.

Besonders eine Formulierung hatte es dem bekannten Schweizer Erzähler angetan: Gleich zu Beginn seines prämierten Erzählreigens unter dem Titel „Ausflug mit L.“ fällt der Begriff „kräftezehrende Unverbindlichkeit“. Ist das der Grundton, ja die Quintessenz in der Prosa des 1975 in Bielefeld geborenen Autors? Ramstedt freut sich: „Ich bin doch keine Bonmot-Maschine, der genaue Sinn dieser Formulierung ist mir eher unklar ...“

Mehr als von philologischen Spitzfindigkeiten hält Ramstedt von der Spontanität des gesprochenen Wortes. „Ich habe vom Lesebühnen-Trend der Neunzigerjahre profitiert. Meine Geschichten sind immer an ein tatsächliches Publikum gerichtet, ja manche sind erst in den Nächten vor den Lesungen entstanden ...“

Ramstedt wendet sich vehement gegen die konventionellen Klischees vom „Schriftsteller“. Die Vorstellung vom einsamen Autor, der aus der Isolation heraus für ein anonymes Publikum schreibt, ist ihm sichtbar unangenehm. „So etwas wäre wirklich nichts für mich!“ Von Anfang an hat er mit anderen Künstlern zusammengearbeitet, ob mit der Underground-Zeichnerin Silke Schmidt, dem Slam-Poeten Florian Werner oder dem Italo-Jazzmusiker Bruno Franceschini. Seit einiger Zeit tritt er mit den beiden Letzteren in einer Art literarisch-musikalischer Boygroup auf: „Fön. Texte an Musik“ heißen die Performances der Jungs, die sich selbst als „Weltschmerz-Combo“ bezeichnen.

„Insofern hatte die Open-Mike-Jury Recht mit ihrer Feststellung, dass meine Texte sehr rhythmisch seien, denn bei den Fön-Auftritten sollen ja Text und Musik zusammenwirken.“ Doch Ramstedt tummelt sich nicht nur im Grenzbereich von Musik und Literatur: Vor einiger Zeit hat er in Brandenburg mit einigen Freunden auch einen Dogma-Horrorfilm gedreht, weit vor „Blair Witch Project“.

Im Tagesspiegel wurde Ramstedts Open-Mike-Gewinnertext nun bereits mit dem Jahreszeitenzyklus des französischen Filmemachers Eric Rohmer verglichen – ist da was dran? Ramstedt lacht und schüttelt den Kopf. Die vier kurzen Erzählungen seien ja überhaupt nicht als Zyklus geplant gewesen, das habe sich halt so ergeben. Wer wie Ramstedt als Autor in die Öffentlichkeit tritt, muss sich einiges Herumdeuteln an den eigenen Texten gefallen lassen und vor allem neugierige Fragen. Zum Beispiel, wer denn nun die L. genannte Frau in seinem Textzyklus ist? Er sagt, er wisse das selbst nicht, zuckt mit den Achseln und fügt dann an: „Die Figur hat in der Fantasie der Zuhörer ein gewisses Eigenleben gewonnen, sie ist real geworden, obwohl sie eigentlich wirklich nicht mehr als ein abgekürzter Buchstabe war ...“

Wenn seine Texte autobiografisch missverstanden würden, sei ihm das eher peinlich, entscheidend sei „das Erzählen an sich, der Versuch, den Verlauf einer Geschichte zu beobachten und zum richtigen Moment die Pointe zu setzen“.

Natürlich gibt es auch andere Motive für das Schreiben: „Frauentränen erzeugen, sich in das amouröse Gedächtnis einschreiben, das wäre natürlich schön“, so Ramstedt, „aber da haben es Lyriker oder Sänger doch etwas einfacher“. Eins möchte er auf keinen Fall sein: ein typischer Berlin-Autor, wohnten doch die Hälfte der Open-Mike-Teilnehmer im Prenzlauer Berg. Lokalkolorit in Texten findet er einfach nur peinlich.

Auch gegen das Label Popliteratur hat er was, selbst wenn er generationsmäßig dazugehören sollte. Doch seine Vorbilder sind andere, Peter Bichsel zum Beispiel: „Wir hatten zu Hause eine dieser niveauvollen Märchenerzähl-Schallplatten von Peter Bichsel, die habe ich als Kind rauf- und runtergehört. Die Platte hatte einen Sprung, und einmal bin ich darüber eingeschlafen, da lief die ganze Nacht immer derselbe Satz von Peter Bichsel großartig!“

Ramstedt schätzt besonders die beiläufigen Effekte, das Unerwartete. „In einer frühen Kurzgeschichte von Stephen King wird der Tod des Helden so erzählt: Das Auto, das ihn überfuhr, war rot ... So ähnlich gehe ich auch in meinen Texten vor.“

Dann grinst er etwas gequält: „Oh Mann, ich rede schon wie ein Scheiß-Autor ...“ Wenn Ramstedt nicht gerade in die Rolle des Autors und Vorlesers schlüpft, studiert er an der Freien Universität Germanistik und Philosophie. Ein Problem, gleichzeitig Literaturwissenschaftler und Literat zu sein, hat er nicht, denn, so Ramstedt, man solle das Akademische nicht überschätzen.

Am Ende des Gesprächs treten wir hinaus auf die verregnete Oderberger Straße. Ramstedt blickt skeptisch auf einen vorbeifahrenden Fahrradfahrer mit Baskenmütze. „Es gibt da dieses Gedicht von Bukowski“, sagt er zum Abschied und zitiert: „Never even in calmer times have I ever dreamed of bicycling through that city wearing a beret, and Camus always pissed me off.“ Dann verschwindet er in die Nacht.