Die ägyptische Hauptstadt der Sehnsucht

Den Zenit als kosmopolitische Stadt hat Alexandria längst überschritten. Das Kaffeehaus stammt noch aus seiner Blütezeit. Junge Alexandriner wundern sich, wo der Ruhm ihrer Stadt herkommt. Triest, Venedig - oder auch Alexandria - in ihrem Namen klingt Trauer und Verfall mit

Die neue Bibliothek als energischer Schlusspunkt in der zahnlosen Skyline

text: ANIA FAAS
fotos: ANDRÉ LÜTZEN

„Yahia: Für uns bestand Alexandria aus unzähligen Rassen und Religionen ... Amal: Alexandria? Das ist vorbei.“ Ägyptische Erzählung, 1982

Unter Wasser ist Alexandria am schönsten. Im beinah kreisrunden Becken, an dem die städtische Uferpromenade entlangführt, sind Antirhodos, Poseidion und Königshafen versunken, und mit ihnen der Wohnsitz der letzten Pharaonin Kleopatra. Die Erinnerung an Handwerk, Kunst und Wissenschaft, an ausufernde Orgien und mörderische Freveltaten liegt unten im Meer, das manchmal so hoch schwappt, dass heimlich sich küssende Pärchen nass werden. Ab und zu sind auch hochgerüstete Schiffe zu sehen, die mit Magnetstrahlen in die Vergangenheit funken, ihre Oberfläche abtasten und registrieren, um schließlich eine Statue heraufzuziehen, eine Säule, ein Puzzlestück aus dem Bild dessen, was die Stadt einmal gewesen sein könnte. Könnte, hätte, würde ... Gebäude, die Menschen und das Meer: Alexandria ist voll von rückwärts gerichteten Konjunktiven.

Bei Tag bescheint die Sonne sie mit einem gnadenlosen Licht. Die Straßenbahnen – aus Deutschland importierte Waggons – fahren einmal hin und zurück durch das langgezogene Straßendorf von dreieinhalb Millionen Einwohnern. Frauen und Männer sitzen getrennt. Vor den beinah blinden Fenstern spult sich langsam ein Dokumentarfilm des Zerfalls ab. Eine Schar Soldaten steigt ein, gekleidet in zerschlissene Stiefel und verschieden blaue Hemden und Hosen. Der Aufstieg vom Trottoir ist mühsam, der herausgebrochene Asphalt wirft Blasen und schlägt Krater, an manchen Ecken unbegehbar. Überholende Pferdekutschen müssen dicht an den Häusern entlangbalancieren. Ihre Aufbauten kratzen Schleifspuren in die zerfallenen Mauern, an vor Jahrzehnten errichteten Baugerüsten, Prothesen, die ein Stück Zimmer oder Flur zusammenhalten. Mit gesenktem Blick stolpern die Passanten durch das unwegsame Gelände – wie Flüchtlinge in einer Stadt nach dem Bürgerkrieg.

Trotzdem bleibt das Leben nicht stehen. Ein Karussel dreht sich auf einem Hügel von Ziegelschutt, ein Markt passt in die Gassen rings um die Moschee, selbst ein Basar mit Papierstraße, Hochzeitskleidstraße, Schmuckstraße und Teppichstraße, autofrei. Das Kaffeehaus „Trianon“ und das kleine „Kaffeekontor“ kommen in Sicht, wenn die zentrale Bahnstation näher rückt. Wie eine aus Wien übertragene Fata Morgana entfalten sie mittags ihren Charme, der noch aus der letzten Blütezeit der Stadt stammt. Die verlockenden Kuchen und barocken Torten in ihren Vitrinen, ihre Thonetstühle, Wandspiegel und Wassergläschen sind Überreste einer „kosmopolitischen Kultur“, auf die sich der ganze Stolz eingewanderter Kaufleute gründete, bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Griechen, Italiener, Armenier, Maltesen sprachen und verhandelten auf französisch mit den Ägyptern und lebten in den prachtvollen sechsstöckigen Jugendstilhäusern, die heute staubigen Ruinen gleichen. Jüngere Leute können weder die Touristenpreise der Vorzeigecafés bezahlen noch sich vorstellen, woher die Stadt ihren guten Ruf eigentlich hat.

„Ich habe keine Zeit für eine Freundin“, meint Ehab, ein zwanzigjähriger Ägypter. „Erst muss ich Geld verdienen, um eine Frau zu finden. Und dann, wenn ich geheiratet habe, für die Kinder.“ Ein Single-Leben kann sich der Student überhaupt nicht vorstellen. Fortschritt, das ist für ihn vor allem die technische Entwicklung. Wie die meisten Studenten nutzt er das Internet mehr als das Fernsehen, hauptsächlich, um Web-Freundschaften in aller Welt zu pflegen. Aber im Alltag spielt die Familie die wichtigste Rolle. Abends nehmen die Väter ihre verschleierten Frauen bei der Hand, diese die Kinder, und dann herrscht für ein paar Stunden Hochbetrieb in den Straßen des Zentrums. Menschen, Lichter, Gerüche von gebratenem Fleisch oder Linsensuppen, noch weit nach Mitternacht.

Die Brise vom Meer mildert das Klima der Stadt. Hinterhöfe leuchten in geheimnisvollem Grün, tausende bunter Glühbirnchen schmücken Toreinfahrten und Plätze, an den Denkmälern wollen Jugendliche ihre Kletterkünste messen. Auf der „Sindbad-Kirmes“ gibt es eine halsbrecherische Achterbahn und Live-Auftritte einheimischer Bands. Hier könnte man ein Mädchen kennen lernen, vielleicht. „Aber das wäre dann keine zum Heiraten ...“

Der Österreicher Christoph Kapeller kann ein Lied davon singen, wie schwer sich die Alexandriner, außerhalb der Familien, mit dem öffentlichen Leben tun. Er ist Architekt und hat die letzten zehn Jahre mit einem ehrgeizigen Unesco-Projekt verbracht: Sein Büro leitete die Rekonstruktion der legendären „Biblioteca Alexandrina“. Die Sammlung der „Schriften aller Männer“, von Alexander dem Großen erdacht, hat nun, fast zwei Jahrtausende später, Gestalt angenommen. Kapellers Traum war ein für alle zugänglicher Garten mit direktem Zugang zur Meerespromenade. Ein Ort, wo man Lesen, Flanieren oder einfach nur zum Plaudern zusammenkommen sollte. „Aber davor hatten die am meisten Angst ...“, meint er bedauernd, „ ... dass die Jugendlichen sich da womöglich unbeaufsichtigt vergnügen.“ Und obwohl es noch viel mehr Träume gab, die der Planer aus seinen Zeichnungen streichen musste, ist er „sehr glücklich“ mit dem imposanten Bau, der im April 2002 feierlich eröffnet wird. Wie eine Sonnenscheibe aus Glas und Aluminium, halb in einem Süßwasserbecken versunken, ruht die Bibliothek als energischer Schlusspunkt in der zahnlosen Skyline der Stadt. Oder vielmehr als Wendepunkt. Von hier aus soll, so der Gedanke der geistigen Väter des Projekts, an eine glanzvolle Vergangenheit angeknüpft werden, zu der die Stadt einer der wichtigsten Umschlagplätze des Mittelmeerraums war und ihre Wissenschaftler die ersten Leser griechischer Handschriften. Doch womöglich ist das Meer zu klein geworden, um als gedachter „Steg der Kulturen“ mit dem World Wide Web mitzuhalten, und wiederum zu groß, um die wirtschaftlichen und religiösen Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt zu überbrücken. Als Hülle für eine Zukunftsvision hätte der moderne Bau jedenfalls die richtige Lage: genau oberhalb der versunkenen Stätten der Antike, in ihrem Spiegelbild sozusagen.

Von hier an ostwärts säumt die trostlose Küstenstraße eine Art Geisterstadt. Während die Straßenbahn parallel grüne Wohnviertel und die äußeren Bezirke Alexandrias anfährt, gehört der Meeresblick den geschlossenen Jalousien zwanzigstöckiger Apartmenthochhäuser. Zehn Monate im Jahr warten sie still und verstaubend auf ihre Besitzer, wohlhabende Bürger aus Kairo, für die die ewige zweite Stadt im Lande nur als Sommerfrische existiert. Jeder, der etwas auf sich hält, sichert sich hier einen Platz mit Zugang zu dem kilometerlangen Sandstreifen, auf dem Kioske und ein paar malerische Felsen die Abschnitte markieren. Im Gegensatz zu den ägyptischen Feriengästen machen europäische Touristen wenigstens ein, zwei Tagesausflüge an berühmte Grabungsstätten. Polizisten bewachen die Eingänge. Besucher, wenn sie einzeln und nicht mit Bussen kommen, werden gefragt, welche Sprache sie sprechen und warum sie hier sind. Hinter den Kassenhäuschen öffnen sich ihnen dann die rätselhaften hügeligen Gelände mit Säulen, Salzstöcken, abgebröckelten Theatern, tuffigen Steinhöhlen und schillernd-verblassten Erklärungstafeln. Scharen von Schülerinnen verbringen den Vormittag damit, sich mit jedem ihrer Fotoapparate gleichmäßig vor jedem Monument zu fotografieren. Und vor dem Graffito, das jemand auf die Außenmauer gesprüht hat, hinter der die Hochhaussiedlungen beginnen. „May the best of your past be the worst of your future.“

Lawrence Durrell – „Hauptstadt der Erinnerung“ –, Naguib Mahfouz und Youssef Shahine sind von dieser Stadt inspiriert worden und haben sie in ihren Werken nicht nur verewigt, sondern eigentlich geschaffen. Das Beste an Alexandrias Zukunft könnten Schriften, Zeichen und Bücher sein. Wie in Triest, Venedig – oder auch Timbuktu – klingen in ihrem Namen Trauer und Verfall mit, die Vorboten des Mythos. Alexandria ist eben kein Ort zum Sehen, sondern für Sehnsucht.