Der erste große Ratschlag

Rund 800 Stammesführer, Religionslehrer und frühere Mudschaheddin-Kommandanten haben in Peschawar Schritte für die Nach-Taliban-Zeit beraten

von BERNARD IMHASLY

Eine Versammlung von Exilafghanen hat in der pakistanischen Grenzstadt Peschawar eine Resolution verabschiedet, in der die rund 800 Delegierten das erwartete Ende des Taliban-Regimes begrüßen, gleichzeitig aber auch die internationale Militärallianz auffordern, ihre Luftangriffe einzustellen. An Stelle der Taliban-Regierung soll eine „Große Versammlung“ treten; diese „Loya Jirga“ solle in Peschawar zusammentreten. Eine solche sei nun dringend nötig, da die laufenden Militäroperationen den Zusammenbruch des Taliban-Regimes beschleunigten, und sich damit die Gefahr eines politischen Vakuums öffne.

Mit Blick auf die Nordallianz warnt die Resolution davor, dieses Vakuum durch bloß eine Gruppe zu füllen. Dies würde nur „zu einer neuen Phase des Blutvergießens und der Unordnung führen“. Dagegen soll der im römischen Exil lebende Sahir Schah eine Schlüsselrolle spielen, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Der Text der Schlussresolution der Versammlung äußert sich aber nicht zu den Modalitäten, wie es zu dieser Loya Jirga kommen soll. Während der zweitägigen Gespräche hat ein Vertrauter des Exkönigs vorgeschlagen, dass der König zusammen mit parteiunabhängigen Fachleuten eine Übergangsregierung führen sollte. Diese würde auch die Große Versammlung vorbereiten, sowie einen Verfassungsentwurf.

Die gestern zu Ende gegangene Versammlung von Stammesführern, Religionslehrern und ehemaligen Kommandanten reiht sich ein in die wachsende Zahl von Treffen, in denen sich die große afghanische Diaspora in Rom, Zypern, der Türkei und vor allem in Pakistan zu Wort meldet, während sich das Regime der Taliban seinem Ende zuneigt. Die Zusammenkunft von Peschawar war zweifellos die größte und bisher gewichtigste, obwohl sie nicht alle Taliban-Gegner umfasste. Im Wesentlichen waren es Paschtunen aus dem Süden des Landes, die der „Nationalen Islamischen Front von Afghanistan“ von Pir Sayed Ahmad Gailani nahe stehen. Die Front ist eine der Mudschaheddin-Parteien aus dem Krieg gegen die Sowjetbesatzung. Sie hatte sich aber nach der Befreiung aus den Querelen herausgehalten und damit ihren Ruf als gemäßigte, islamische Partei bewahrt. Pir Gailani fordert seit Jahren die Einberufung einer Interimsregierung, die eine moderne Verfassung vorbereiten soll, mit Wahlen, Gewaltenteilung und der Sicherung fundamentaler Rechte. Er verfügt über gute Kontakte mit Sahir Schah, dem König im römsichen Exil, den er vor dem Zusammentritt der Versammlung besucht hat.

Die Tatsache, dass die Nordallianz nicht vertreten war, wird von Beobachtern eher als Vorteil betrachtet. Eine Teilnahme hätte die politischen und ethnischen Verschiedenheiten unter den Taliban-Gegnern übertüncht und die Versammlung dem Vorwurf ausgesetzt, von der Nordallianz beeinflusst zu sein.

Mit dem Verfolgen eines eigenen, aber parallelen Kurses kann sich die Front als Vertreterin der Paschtunen profilieren und als Partnerin der Nordallianz positionieren. Diese wird von den kleineren ethnischen Gruppen der Tadschiken, Usbeken und Hazaras dominiert. Sie ist im Fall eines militärischen Siegs gegen die Taliban auf die Zusammenarbeit mit den Paschtunen angewiesen, die mit rund 45 Prozent der afghanischen Bevölkerung die größte ethnische Gruppe darstellen und die zudem seit 250 Jahren die politischen Geschicke des Landes bestimmt haben.

Der gemeinsame Krieg gegen die Sowjetunion und das lange Exil danach haben zudem dafür gesorgt, dass sich die scharfen ethnischen Abgrenzungen abgeschliffen haben. So ist etwa der ehemalige Mudschaheddin-Kommandant Abdul Haq ein Anhänger Gailanis, während sein Bruder Hadschi Kadir, ebenfalls ein Paschtune, der Nordallianz zugerechnet wird.

Ein Näherkommen der Nordallianz und der Front würde auch die Anstrengungen Pakistans unterlaufen, das seine Interessen mit der Berücksichtigung „gemäßigter Taliban“ – als legitimen Vertretern der Paschtunen – in einer künftigen politischen Regelung sichern möchte. Islamabad ist allerdings klug genug, nicht wiederum alles auf eine Gruppe zu setzen. Sie hat daher das Treffen in Peschawar begrüßt, ebenso wie es den Besuch Pir Gailanis in Rom erleichtert hat. Dennoch sehen viele Exilafghanen im Begriff von „gemäßigten Taliban“ einen erneuten Versuch Pakistans, sich in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einzumischen. „Die Taliban sind zwar Paschtunen, aber bei weitem nicht alle Paschtunen sind Taliban“, sagte am Donnerstag Masood Khalili, der in Indien akkreditierte Botschafter der Allianz.