Abstand zum Leben

Eine förmliche Distanz zeichnet sie aus, ob im persönlichen Gespräch oder in ihren Erzählungen: Ein Porträt der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck

„Ich weiß auch nicht, warum ich keine lustige Literatur schreibe“

von JÖRG PETRASCH

„Kennen wir uns“, fragt Jenny Erpenbeck, als ich sie am Telefon voreilig duze, um mit ihr einen Interviewtermin abzusprechen, „ich duze mich am Anfang normalerweise nie.“ Ich versuche mich herauszureden. Hilft aber nichts. Als ich sie ein paar Tage später in ihrer geräumigen Zweizimmerwohnung im Prenzlauer Berg besuche, schlägt die gebürtige Ostberlinerin gleich wieder vor, dass wir uns siezen. „Selbst schuld“, sagt sie achselzuckend und schaut mich an, „ich hätte Ihnen beim Hereinkommen sonst bestimmt das Du angeboten.“ Frau Erpenbeck also. Ich solle sie nicht für zickig halten. Sie habe ihren Freund bis zum Tag der Liebeserklärung gesiezt, ein drei viertel Jahr lang.

Es ist diese förmliche Distanz, die den Schreibstil Jenny Erpenbecks ausmacht. Diese Distanz zeichnete schon ihr Prosadebüt „Geschichte vom alten Kind“ aus, mit dem die 34-Jährige vor zwei Jahren mit einem Schlag bekannt wurde. Die Geschichte eines 31-jährigen „Mädchens“, das sich, im Heim lebend, in einen vorpubertären Zustand zurückversetzt und damit vollkommen zufrieden scheint. Nachdem das „Kind“ einmal zwei Jungs beim Onanieren beobachtet, „geht es die Pappelallee ein Stück hinunter, dann bleibt es stehen, greift nach einer der Pappeln, beugt sich zum Wegrand hin und übergibt sich gründlich“. Ihr gelang damit eine seltsame wertneutale und darum umso beklemmendere Darstellung einer gefühls- und geschichtsentleerten Figur.

Zum Glück ist Jenny Erpenbeck durchaus aufgeschlossen. Sie winkt mich freundlich in ihre Wohnung, in der es eine große Bücherwand gibt, viel Holz und ein neues gekacheltes Bad. Erst seit einem Jahr hat die gelernte Opernregisseurin wieder eine Wohnung in Berlin – ihren Lebensmittelpunkt hat sie seit längerem schon nach Graz verlagert, wo sie hauptsächlich Stücke für Theater und Oper inszeniert.

Jenny Erpenbeck ist ein wenig krank. Sie trägt ein grünes Halstuch, einen blauen Pullover und eine blaue Cordhose mit Schlag, die sie noch von ihrer Mutter hat. Mit ihrer etwas roten Nase und noch ein bisschen verschlafen ist sie kaum zu erkennen. Auf den üblichen Fotos in den Printmedien hat sie Rehaugen, die stecken nun hinter einer runden Brille und sind ein wenig verschleiert. Sie sei eben eine „Verwandlungskünstlerin“, je nachdem, wie sie sich fühle. Dabei wirkt sie selbstsicher, ohne Allüren, witzig („ich weiß auch nicht, warum ich keine lustige Literatur schreibe“) und irgendwie konsequent. Ohne zu murren kämpft sie gegen den Drang an, sich einfach ins Bett zu legen, und verbraucht bestimmt zwei Päckchen Tempo. Wir sitzen an einem langen Holztisch in der Küche, sie kocht einen starken Kaffee, und immer mal wieder unterbricht uns das Telefon. Anfragen für Lesungen oder Interviews.

Sie habe sich nie als Schriftstellerin gesehen, sagt sie, und nicht gedacht, dass man davon überhaupt leben könne. Bis vor zwei Jahren, gibt sie lächelnd zu, habe ihr die Mutter noch Geld zugeschoben. Sie habe einfach „Schwein gehabt“, es sei Glückssache, dass die Leute sie gerne lesen. Im Juni dieses Jahres bekam Jenny Erpenbeck für die Erzählung „Sibirien“ aus ihrem eben erschienenen Erzählband „Tand“ in Klagenfurt den „Preis der Jury“. Auch dort ist Distanz ein Thema: „Mein Vater sagt, an den Haaren habe seine Mutter damals ihre Widersacherin aus dem Haus geschleift. Habe sie an den schwarzen Haaren gepackt, im Flur ein- oder zweimal herumgeschleudert und dann aus dem Haus geworfen.“ Bereits die Konstruktion der Geschichte – die Tochter erfährt vom Vater Einzelheiten aus dem Leben ihrer aus Sibirien zurückkehrenden Großmutter – bewirkt eine zweifache Brechung der Erzählebene. Dadurch wird die Großmutter vom Hörensagen her beschrieben, um sie so einer Wertung zu entheben. Zumal, wie Erpenbeck zugibt, das Thema der heimkehrenden Großmutter ihr stark am Herzen liege, da es autobiografisch sei. Einfach eine Frage der Haltung Menschen gegenüber, sagt sie, „rumbohren“ sei nicht ihre Art.

Auffällig an den Erzählungen aus „Tand“ ist, dass sehr viele alte Menschen darin vorkommen. Beispielsweise in der wunderschönen, unaufgeregten Titelerzählung, in der das Altern und der Verfall der Großmutter, einer berühmten Rezitatorin, beschrieben werden. Sie gibt ihr Können als Vermächtnis und Bürde an ihre Enkelin weiter und findet erst dann ihr eigene Stimme und ihr eigenes Lachen wieder. Alte Leute findet Jenny Erpenbeck spannend. Weil sie Abstand zum Leben haben. Sie können es von außen betrachten, sagt sie, haben Distanz dazu. In den jeweiligen Lebensabschnitten seien die Menschen verschieden, das interessiere sie. In der Schlusserzählung „Anzünden oder Abreisen“ werden auf fünf Seiten verschiedene Stationen eines Lebens erzählt. Die Jugend beispielsweise: „Mein Geliebter beißt von mir ab und sagt: Das ist wunderbar, dass an dir alles nachwächst.“ Am Schluss ist die Ich-Erzählerin alt: „Um den Kopf zu heben, brauche ich eine Stunde, um zu essen einen ganzen Vormittag“. Jenny Erpenbeck sagt, sie habe vor dem Älterwerden keine Angst. Im Gegenteil: Bei der Auswahl eines Fotos achtet sie darauf, dass sie eines findet, auf dem sie älter aussieht. Denn fast alle Fotos, die man bisher von ihr gesehen hatte, zeigten sie als eine ziemlich jugendliche Frau. Nein, sagt sie am Ende noch mit angriffslustigem Unterton, die seien keineswegs so kindlich inszeniert worden.

Jenny Erpenbeck liest heute Abend um 21. Uhr im Buchhändlerkeller, Carmerstr. 1, Charlottenburg