„Streit ist kein Zeichen von Schwäche“

„Vielleicht hat es in der Extremismus-Debatte der Grünen bisher zu viele Tabus gegeben“

Interview SEVERIN WEILAND

taz: Frau Müller, wann haben Sie zuletzt mit Otto Schily gesprochen?

Kerstin Müller: Wir haben uns vergangenen Dienstag getroffen.

Und wie war die Stimmung?

Unsere Verhandlungen über das zweite Sicherheitspaket sind sehr konstruktiv.

Zuletzt hat der Innenminister im Bundestag sehr entspannt gewirkt.

Da können Sie mal sehen, was Gespräche ausmachen.

Vielleicht kann sich Schily diese Großzügigkeit ja leisten, weil er die Grünen nicht mehr zu fürchten hat?

Wenn wir uns zu sehr öffentlich streiten, spekulieren die Medien über das Ende der Koalition, streiten wir intern, wird argwöhnt, die Grünen wären zahnlos – was wollen Sie also nun?

Wie müssen wir denn die Situation verstehen, in der sich Ihre Partei befindet?

Wir können nach dem 11. September nicht ausschließen, dass auch die Bundesrepublik Ziel von Anschlägen wird. Darauf müssen wir uns innenpolitisch einstellen.

Indem die Grünen mittragen, was der Bundesinnenminister vorgibt?

Nein. Wir sind eine Bürgerrechtspartei. Alles, was derzeit getan werden muss, machen wir unter der rechtsstaatlichen Maßgabe: Mehr Sicherheit ja, aber nicht zum Preis von Eingriffen in Freiheits- und Bürgerrechte. Unsere Aufgabe ist es, hier die richtige Balance zu finden.

Auffallend ist, dass die Grünen Positionen aufgeben, ohne ihre Wandlung kenntlich zu machen. Noch 1998 hat die Partei im Wahlprogramm zur Bundestagswahl als langfristiges Ziel die Auflösung der Geheimdienste verlangt. Jetzt steht dazu in Ihrem Fraktionspapier kein Wort mehr – stattdessen sollen die Dienste evaluiert werden.

Es ist doch immerhin anzuerkennen, dass die Dienste nach den Anschlägen in den USA eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen geliefert haben. Auf der anderen Seite haben selbst die gut ausgerüsteten Geheimdienste der USA die Anschläge nicht verhindern können. Da stellt sich die Frage, wo liegen die Fehler?

Eigentlich ein Argument, um auf der Abschaffung der Dienste zu beharren.

Für uns Grüne stellt sich die Frage, was die Dienste eigentlich tun, welche Prioritäten sie sich setzen. Wir brauchen auch in Deutschland eine Qualitätsdebatte. Bereits bei der Debatte um den Rechtsextremismus haben wir kritisiert, dass die Dienste auf dem rechten Auge blind sind. Jetzt geht es darum, ihre Effizienz gegenüber dem internationalen und dem islamistischen Extremismus kritisch zu überprüfen. Wir kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass Europa Ruheraum für Terroristen ist. Und das gefährdet den Rechtsstaat, das gefährdet auch das Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen.

Heißt das also, dass die Grünen seit dem 11. September nicht mehr die Auflösung der Geheimdienste fordern?

Ich persönlich bin nicht für die Abschaffung der Geheimdienste. Aber ich bin für eine ganz klare rechtsstaatliche Kontrolle. Wir werden die Debatte auch auf europäischer Ebene bekommen. Wir müssen etwa dafür sorgen, dass Europol endlich auf eine rechtsstaatliche Grundlage gestellt wird, dass es richterliche Kontrollmöglichkeiten gibt.

Bayerns Verfassungsschutz darf bereits die organisierte Kriminalität ausforschen. Kommt das auch auf Bundesbene?

Bislang gibt es keine Forderungen, die in diese Richtung gehen.

Und wenn sie kämen?

Ich bin für eine klare Trennung von polizeilichen und geheimdienstlichen Aufgaben, aus praktischen und aus unseren spezifisch deutschen historischen Gründen.

Was halten Sie von immer wieder gehegten Plänen, das Bundeskriminalamt zur Bundespolizei auszubauen?

Nichts.

Was Schily auf jeden Fall will, ist ein verbesserter Datenaustausch der Geheimdienste.

Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Datenaustausch ist jetzt schon möglich. Wichtig ist die datenschutzrechtliche Kontrolle. Ich wäre aber strikt gegen eine gemeinsame Datenbank von Geheimdiensten und Bundeskriminalamt. Damit würde das Trennungsgebot von polizeilicher und nachrichtendienstlicher Arbeit aufgehoben.

Was halten Sie von der Verschärfung der Visabestimmungen?

Einer der Täter ist nachweislich dreimal mit verschiedenen Visa nach Europa eingereist. Man muss schon überlegen, wie man so etwas künftig verhindern kann. Allerdings: auch identitätssichernde Maßnahmen bringen nur etwas, wenn sie EU-weit erfolgen. Denn die meisten Visa gelten für allen Schengen-Staaten.

Schily hat sich zuletzt im Bundestag noch einmal für Fingerabdrücke in Pässen ausgesprochen, der Kanzler hat eine Prüfung des Plans zugesagt. Wollen Sie sich also mit beiden anlegen?

Es geht nicht ums Anlegen. Ich halte es für unverhältnismäßig, die Fingerabdrücke aller Bürger zu speichern. Das würde alle Bundesbürger unter Generalverdacht stellen und zudem erst in fünf bis zehn Jahren wirken – so lange dauert es, die rund 70 Millionen Pässe umzustellen. Also das ist keine Maßnahme, die jetzt schnell mehr Sicherheit bringt.

Was sollte in das Sicherheitspaket hinein?

Unter anderem der Kampf gegen die Geldwäsche und die Sky-Marshalls, die unserer Auffassung nach eine hoheitliche Aufgabe sein sollten – und keine private.

Waren die Grünen, was den politischen Islamismus angeht, in der Vergangenheit zu blauäugig?

Wir haben immer für die Öffnung der Gesellschaft gestritten, für ein Zuwanderungsgesetz, für den Schutz von Flüchtlingen. Und vielleicht hat es dabei auch in unserer Debatte Tabus gegeben. Gerade wenn wir die Rechte der Immigranten und Flüchtlinge schützen wollen, müssen wir umso klarer rechtsstaatliche Grenzen ziehen. Nur so sind auch pauschale Diffamierungen aller Migranten zu verhindern, die friedlich hier leben.

Die Grünen stimmen der Abschaffung des Religionsprivilegs zu. Werden Sie Verbote extremistischer Gruppen mittragen oder wieder wackeln, wenn es so weit ist?

Das ist keine Frage des Wackelns. Jeden Fall muss man sich genau ansehen. Schafft ein Verbot mehr Sicherheit oder wird dadurch eine Kontrolle nur erschwert? Jetzt wurde erst einmal die Rechtsgrundlage geschaffen. Wir werden auch noch Änderungen im Vereins- und Ausländerrecht folgen lassen.

Was ist mit dem islamistischen Verein Milli Görus, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird? Müsste er nicht verboten werden?

Das muss man sehr genau prüfen. Ich erwarte zumindest von Milli Görus und von anderen, ähnlich ausgerichteten Vereinen den Nachweis, dass sie mit unseren Grundwerten, unserem Rechtsstaat übereinstimmen.

Die derzeitige Debatte schüttelt mal wieder die Grünen durcheinander. Sie haben kürzlich Schelte für ihren Satz erhalten, die Grünen seien keine pazifistische Partei mehr.

Dieser Satz ist in einem bestimmten Zusammenhang gefallen.

Wie haben Sie ihn denn gemeint?

Natürlich haben wir unsere Wurzeln in der Friedensbewegung. Nach wie vor sind für wichtige Teile unserer Partei pazifistische Überzeugungen eine Grundlage ihres politischen Handelns. . .

. . .die nichts zu sagen haben.

Nein, das stimmt nicht. Sie haben ihre Heimat bei den Grünen und ich will auch, dass das so bleibt. Im übrigen bin ich davon überzeugt, dass der politische Pazifismus nach wie vor Handlungsmaxime der Gesamtpartei ist.

Was soll das heißen – politischer Pazifismus?

Der politische Pazifismus ist keineswegs hilflos. Im Mittelpunkt -– auch im derzeitigen Kampf gegen den internationalen Terrorismus – stehen für uns stets die politischen Konzepte. Dazu zählen die Stärkung der Entwicklungsarbeit, Konfliktprävention, institutionelle Reformen von IWF und UNO. Gerade jetzt sind also die Grünen gefragt! Allerdings hat sich die Partei in langen Diskussionen dafür entschieden: Zur Verhinderung etwa von Völkermord, zum Schutz von Minderheitenrechten können wir als ultima ratio den Einsatz militärischer Gewalt nicht ausschließen – natürlich auf klarer völkerrechtlicher Grundlage. Ich hoffe, dass das auch auf dem kommenden Parteitag breite Unterstützung findet.

Trotzdem – in Krisensituationen fallen die Grünen in immer die selben Diskussionsmuster zurück – unterhalb des Streits um Krieg und Frieden geht es nicht.

Gerade eine grüne Partei muss immer wieder fragen, ob die Zustimmung zu militärischen Mitteln gerechtfertigt ist oder nicht.

Für eine Regierungsstabilität ist das nicht gerade förderlich. . .

Das sehe ich nicht. Streit um den richtigen Weg, um die wirksamsten Mittel ist kein Ausdruck von Schwäche. Die Debatte während des Kosovo-Krieges haben wir stellvertretend für die Gesellschaft geführt, die jetzige ebenfalls. Das ist richtig und wichtig. Immerhin ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an Militäraktionen. Angesichts zweier Weltkriege, die von Deutschland ausgingen, finde ich diese Zurückhaltung beruhigend – inner- und außerhalb meiner Partei.