historisches
: Lebensreform

Die Bewegung

Mit der Moderne entstand gleichzeitig die Gegenmoderne. Das wilhelminische Bildungsbürgertum sah mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung und der jüdischen Minderheit seinen Status bedroht und versteckte diese Angst hinter den kulturpessimistischen Schlagwörtern der „Massengesellschaft“, der „Herrschaft der Mittelmäßigen“ und der drohenden „Amerikanisierung“.

Kultur wurde nach 1900 zum Programm, mit dem sowohl die eigene Machtbegrenzung durch den nach wie vor mächtigen Adel kaschiert werden sollte wie auch die Überlegenheit gegenüber dem Ausland und den Unterschichten ausgedrückt werden konnte. Kultur sollte pädagogisches Programm für Jugend und Proletariat sein, aber auch die technisierte Gesellschaft beseelen und schmücken. Parallel zu dieser staatstragenden Bewegung opponierte die bürgerliche Jugend gegen die herrschenden Konventionen des „Althergebrachten“ und der „Altvordern“.

Die ästhetische Variante dieser Revolte führte zum bekannten Entwicklungssprung der avantgardistischen Künste, eine soziale Variante der Revolte führte zur Lebensreformbewegung.

Diese Bewegung setzte zunächst an Äußerlichkeiten an: Reformkost, frische Luft und Reformkleidung sollten den Menschen verbessern. Religiöse und kulturphilosophische Empfindungen und Überlegungen untermauerten das Konzept. Die Mehrzahl der Protagonisten waren bürgerliche Stadtflüchtige, die sich zu Gemeinschaften mit jeweils hoch gesteckten Zielen zusammenschlossen.

In den Landkommunen versuchte man eine „freie“, reformierte Lebensweise mit sozialutopischen Vorstellungen in Überstimmung zu bringen, die vorbildhaft in die Gesellschaft ausstrahlen sollten. Das südliche Tessin zwischen Lugano und Brissago war einmal eine einzigartige Kulturlandschaft, beackert und durchpflügt von zahllosen Visionären, Künstlern und Lebenskünstlern. Die Gründer der Kommune Monte Verita in Ascona fanden schon ein präpariertes Terrain vor.

Der kritische Zeitgeist und die ökologische Bewegung weckten in den Siebzigerjahren das Interesse an den historischen Experimenten der frühen Hippies, Anarchisten und Aussteiger. Der renommierte Ausstellungsmacher Harald Szeemann stellte eine Dokumentation zusammen, die seit 1979 im ehemaligen Haupthaus der Kolonie, der Casa Anatta, zu sehen ist. Die Ausstellung berührt 600 verschiedene Viten von Menschen, die auf und um den Berg der Wahrheit herum ihre gesellschaftlichen, religiösen und naturnahen Lebensentwürfe zu leben versuchten, 600 oftmals exzentrische Wege zum Paradies, die in einzigartiger Weise das Lebensgefühl und die Utopien des frühen 20. Jahrhunderts repräsentieren.

CHRISTIAN SAEHRENDT

Zimmer und Ferienwohnungen bei:buongiorno@maggiore.chTelefon +41 91 79 10 09 1 Tagungszentrum und Museum Monte Verita: Fondazione Monte Verita, CH-6612 Ascona, Telefon+41 91 79 10 18 1, reception@csf-mv.ti-edu.ch (Ausstellungskatalog erhältlich)