DIE SLOWAKEI AUF DEM WEG DURCH DIE SECHZIGERJAHRE
: Schleichende Modernisierung

So richtig ernst genommen hat niemand in Westeuropa die kleine Slowakei, als sie sich 1993 von Tschechien trennte. Unter dem autokratischen Herrscher Vladimir Mečiar wurde sie vier Jahre lang zum internationalen Ärgernis, innenpolitisch repressiv, nach außen EU- und Nato-feindlich. Die Parteifunktionäre privatisierten in die eigenen Taschen, die Regierung machte Russland und der Ukraine obstruse militärpolitische Avancen – eine Zeit lang rätselten selbst slowakische Intellektuelle, ob der Balkan, der südlich von Ungarn beginnt, nicht auch noch ihr kleines Bergland umfasst.

Daran, dass nun ein zufriedener Westen eine Slowakei beobachtet, die mit aller Macht in die EU und die Nato drängt, hat ihr Staatspräsident Rudolf Schuster, der gerade Deutschland besucht, einen gehörigen Anteil. Als er noch Bürgermeister von Košice war, schlug er sich auf die Seite der Modernisierer, die sich mit seiner Hilfe gegen die von Mečiar-Freunden beherrschten mafiosen Strukturen im Stahlwerk von Košice durchsetzten, dem größten Unternehmen, größten Exporteur und größten Steuerzahler des Landes. Die Modernisierer wiederum unterstützten ihn, als er von Košice aus gegen Mečiar für das Präsidentenamt kandidierte, um damit eine Rückkehr des Autokraten zu verhindern – erfolgreich.

Jetzt befindet sich die Slowakei, gemessen an westdeutschen Verhältnissen, auf dem Weg durch die Sechzigerjahre. Die Westbindung ist durchgesetzt, die Parteienlandschaft konsolidiert sich allmählich – die Mehrheitsverhältnisse im Parlament erweisen sich als stabiler, als jeder Kommentator vor drei Jahren geglaubt hat. Und auch eine Art 68er-Protestbewegung ist in vollem Gang, eine postmoderne, postkommunistischen Variante. Aufgrund der auch zur Mečiar-Zeit fast unbegrenzten Fernseh- und Reisefreiheit sind die jüngeren Slowakinnen und Slowaken durchweg besser informiert und besser ausgebildet als ihre Lehrer und Vorgesetzten. Im Unterschied zum westlichen „1968“ ist dieser Prozess unauffällig, aber stetig – die slowakische Selbstreform verläuft als schleichende Modernisierung. DIETMAR BARTZ