Der Ballast des Schweigens

Nach den Müttern leiden die Töchter: In „Zeit der Männer, Zeit der Frauen“ erzählt die tunesische Filmemacherin Moufida Tlatli von der schwierigen Emanzipation arabischer Frauen. Ein Porträt

von THOMAS WINKLER

„Meine Vergangenheit verfolgt mich“, sagt Moufida Tlatli. Deshalb macht sie Filme. Filme, die zu den schönsten gehören, die das arabische Kino hervorgebracht hat. In langen, ruhigen Einstellungen erzählt sie von den beladenen Beziehungen zwischen Frauen und Männern in ihrer Heimat Tunesien. Für ihr Debüt „Palast des Schweigens“, mit dem sie 1993 bekannt wurde, gewann sie Preise in Toronto, Chicago, San Francisco und die Goldene Palme in Cannes.

Dass sie Filme macht, um sich zu erinnern, aber auch dass sie ihr Handwerk als Cutterin für die namhaftesten Regisseure des arabischen Kinos lernte, das merkt man der Struktur ihrer Filme an. Sowohl „Palast des Schweigens“ als auch ihr zweiter Film „Zeit der Männer, Zeit der Frauen“, der nun in deutsche Kinos kommt, beginnen mit einer Rückkehr der Protagonistinnen an den zentralen Ort ihrer Vergangenheit. Von dort aus entwickelt Tlatli mit Hilfe von Rückblenden die Geschichte ihrer Heldinnen.

In „Zeit der Männer. . .“ kommt Aicha mit ihren Kindern, aber ohne ihren Mann, zurück in das Haus auf der Insel Djerba, in dem sie dereinst unter der Knute ihrer tyrannischen Schwiegermutter leben musste. In einer Kiste findet sie ihren Brautschleier, und so kehrt auch ihre Vergangenheit zurück. Tlatli erzählt die Geschichte vom Frauenhaushalt, der elf Monate im Jahr auf die Rückkehr der Männer wartet, die in der Hauptstadt arbeiten, als Lehrstück einer schleichenden Emanzipation, die aus Verzweiflung und enttäuschter Sehnsucht entsteht. Aichas Zukunftsperspektive besteht darin, so wird es ihr von der Mutter ihres Mannes in Aussicht gestellt wie eine Karriere, selbst einmal eine „gefürchtete Schwiegermutter“ zu werden.

Auf Musik hat Tlatli verzichtet. Stattdessen wird der Film strukturiert durch die Lieder der Frauen, die Trauer und Freude hörbar machen, wenn sonstige Kommunikation versagt. Das Zirpen der Grillen ist mal bedrohliches Hintergrundrauschen, mal verstärkt es die latent stets vorhandene, aber nie ausgelebte Sinnlichkeit, die nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen den Frauen selbst herrscht.

Während Aicha und ihre Schwägerinnen die Entsagung als Lebensinhalt kennen lernen, loten in der Discothek ihre Töchter Meriem und Emna in engen Jeans und knappen Tops die Möglichkeiten aus. Aber die neuen Freiräume entpuppen sich vor allem als Freiheiten der Männer. Die amüsieren sich beim Bauchtanz, der längst eher einem Striptease ähnelt. Oder sie versprechen der jugendlichen Geliebten immer wieder die baldige Scheidung von der Ehefrau, als hätten sie zu viele westliche Seifenopern gesehen. „Du hast deine Jungfernschaft verloren“, sagt Meriem über das Verhältnis ihrer Schwester zu einem älteren, verheirateten Mann, „er nicht.“ Meriem selbst kann ihre Ehe nicht vollziehen. Als Kind ist sie beinahe vergewaltigt worden.

Ihre Geschichten seien weitgehend fiktional, aber alle Charaktere doch autobiografisch, erzählt Tlatli. Aicha hätte viel von ihrer Mutter und die Schwägerin Zeineb, deren Mann seit der Hochzeitsnacht in Frankreich verschwunden ist, beruhe zum großen Teil auf ihrer eigenen Tante. Sie selbst fühle sie sich Meriem am nächsten, habe sie als Kind doch einen Vergewaltigungsversuch erlebt, erzählt sie langsam, mit stockender Stimme. Wie ihre Darstellerin im Film wurde sie anschließend von der Familie untersucht, ob ihre Jungfräulichkeit noch intakt sei. Und auch ihr, wie Meriem, sollte deshalb verboten werden, in die Schule zu gehen. Lange, sehr lange, sagt sie, habe sie das ihrem Vater übel genommen. Erst spät habe sie begriffen, dass er nicht nur die islamische Etikette wahren, sondern doch vor allem sie schützen wollte.

Auch deshalb wollte sie endlich selbst Regie führen. Vom Film leben kann sie, im Unterschied zu ihrer Arbeit als Cutterin, nicht – sie stützt sich auf das Einkommen ihres Mannes, der ihr für ihren neuen Film als Koproduzent zur Seite stand. „Palast des Schweigens“ entstand nach dem Tod ihrer Mutter, „Zeit der Männer. . .“ nach dem Tod ihres Vaters. Beide Filme lassen sich lesen als Abrechnung mit den Eltern, aber auch als liebevolle Aufarbeitung der Familiengeschichte.

In ihren Filmen werde vieles mit Worten ausgedrückt, was in arabischen Familien niemals ausgesprochen werden dürfte. Trotzdem sind auch in „Zeit der Männer. . .“ die sprechendsten Szenen oft jene, in denen nicht gesprochen wird. Immer wenn ein Mädchen geboren wird, verlässt die frisch gebackene Oma fluchtartig mit Leichenbittermiene den Raum.

In Tunesien mag die Gleichberechtigung der Frauen seit der Unabhängigkeit 1956 gesetzlich abgesichert sein, und in den vergangenen Jahren fallen auch die Richtersprüche zugunsten allein erziehender Frauen aus. Das Problem aber bleibe so lange bestehen, meint die in Paris und Tunis lebende Tlatli, solange die Mütter die Traditionen weitergeben an die Töchter und „ihnen damit das Leben und ihre Liebesbeziehungen schwer machen“. Sie selbst gebe das Jungfräulichkeitsdiktat, das sie mit ihren Filmen so leidenschaftlich bekämpft, ungewollt an ihre Tochter weiter. Die ist 24 Jahre alt und wohnt alleine in Paris. Ihre Mutter aber ist sich nicht sicher, „ob ich den Lebenswandel meiner Tochter wirklich akzeptiere“.

„La saison des hommes“. Regie & Buch: Moufida Tlatli. Mit Rabiaa Ben Abdallah, Sabah Bouzouita, Ghalia Ben Ali, Hend Sabri u. a., Tunesien/Frankreich 2000, 124 Minuten, OmU