Zellhaufen im Diskurs

Jürgen Habermas will auch mit seinen neuen Büchern der Rolle des öffentlichen Intellektuellen gerecht werden und normative Orientierung in einer „Zeit der Übergänge“ geben

Die Gattungsidentität gerät für Habermas zur Basis für den moralischen Überbau

von RENÈ AGUIGAH

In diesen Tagen, da er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, hört man es immer wieder: Jürgen Habermas ist ein großer öffentlicher Intellektueller. In der Studentenbewegung sah er schon früh „Linksfaschismus“ am Werk, später zog er gegen revisionistische Historiker zu Felde, den Herbst 1989 interpretierte er als „nachholende Revolution“. Besonders seit den frühen Achtzigerjahren verstrich kaum ein wichtiges politisches Ereignis ohne seine Stellungnahme. Es hat sich allerdings auch herumgesprochen: Selbst wenn Habermas noch heute gern als streitbarer Demokrat tituliert wird, ist nennenswerter Streit mit den regierenden Demokraten nicht mehr zu verzeichnen. Der Wahlkampfauftritt an der Seite Gerhard Schröders ist noch in Erinnerung, und Joschka Fischer wird Habermas’ Gedanken zu einer europäischen Verfassung ebenso mit Genugtuung gelesen haben wie dessen Rechtfertigung des Nato-Bombardements im Kosovo. „Ich kenne ihn lange und gut genug“, sagte der Philosoph nach der letzten Bundestagswahl über den neuen Außenminister, „der europapolitische Stabwechsel von Kohl zu Fischer ist ein Glücksfall“. Kein Zweifel, die Zeiten, in denen Intellektuelle noch Pinscher sein durften, sind vorbei.

Eine bündige Beschreibung der eigenen Rolle lieferte Habermas in seiner letzten im engeren Sinne wissenschaftlichen Buchveröffentlichung 1999. Philosophen, heißt es gegen Ende von „Wahrheit und Rechtfertigung“, eigneten sich besonders für die Aufgaben des öffentlichen Intellektuellen, unter anderem weil die Behandlung normativer Fragen zu ihren Kernkompetenzen zähle. Dabei gehe es nicht nur um eine „Orientierung der Lebenswelt“, sondern der demokratische Diskurs selbst hänge auch von der Wachsamkeit des „öffentlichen Hüters der Rationalität“ ab. Bei aller Bescheidenheit, die Habermas ihm unter den Bedingungen „nachmetaphysischen Denkens“ auferlegt: Dieser Intellektuelle ist weit mehr als ein Fachmann für Wertfragen; die skrupulösen Selbstzweifel, Selbstbeschränkungen und Metamorphosen, mit denen sich der französische Intello seit Jahrzehnten herumschlägt, sind ihm fremd. Und so funktioniert die öffentliche Praxis des 72-Jährigen nach wie vor ungebrochen, der gerade erschienene neunte Band seiner Reihe „Kleine Politische Schriften“ belegt es. Zwölf Vorträge, Essays, Interviews und Rezensionen aus den letzten drei Jahren hat er dort zusammengestellt, den Text über die Nato-Intervention und die Gedanken zur Zukunft der Europäischen Union, die anfänglichen Erwartungen an die rot-grüne Bundesregierung, einen Kommentar zum CDU-Spendenskandal oder ein „Gespräch über Gott und die Welt“. Oft lohnen diese Texte die Lektüre eher aus Interesse für die Werkgeschichte ihres Autors als wegen ihrer Inhalte, denn nicht jeder von ihnen wirkt frisch wie am Tag seines ersten Erscheinens; und ob der Buchtitel „Zeit der Übergänge“ einst eine Prägekraft entfalten wird, wie sie seinem Vorgänger „Die Neue Unübersichtlichkeit“ von 1985 vergönnt war, sei dahingestellt.

Bemerkenswerter als dieses Lesebuch sind jene beiden Texte, die nicht in die „Schriften“-Reihe aufgenommen wurden: Der schmale Band „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ enthält Habermas’ Beiträge zur Auseinandersetzung um die Gentechnologie. Sie fallen schon deshalb auf, weil die ansonsten wenigstens äußerlich beibehaltene Trennung zwischen theoretischer Arbeit und politischer Intervention hier kaum mehr auszumachen ist. Habermas gleitet auf engstem Raum von den schlichten Fronten der Tagespolitik (FDP gegen Grüne) zu komplexen moraltheoretischen Erörterungen und wieder zurück zur Bundestagsdebatte vom 31. Mai. Der Ausnahmecharakter, den die Bewertung möglicher Eingriffe in das menschliche Genom darstellt, ist sogar das eigentliche Thema des zuerst in der „Neuen Rundschau“ veröffentlichten Essays mit dem Titel „Begründete Enthaltsamkeit“. Allgemein geht Habermas nämlich davon aus, dass die Orientierungen, die die praktische Philosophie, nach Kant und Kierkegaard, in pluralistischen Gesellschaften noch gebe, nicht mehr in detaillierten Beschreibungen bestünden. Diese Enthaltsamkeit sei erst angesichts der biotechnischen Fortschritte aufzugeben: „Sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im Ganzen auf dem Spiel steht, kann sich die Philosophie inhaltlicher Stellungnahmen nicht mehr entziehen.“

Diese führt der Haupttext des Bandes – erstmals im Juni an der Marburger Universität vorgetragen – ausführlich durch. Die Möglichkeit, die Zusammensetzung des annähernd entschlüsselten menschlichen Genoms zu verändern, markiert für Habermas den fundamentalen Einschnitt. Sie rüttele an der hergebrachten Weise, mit vorpersonalem menschlichem Leben umzugehen – und damit am Selbstverständnis des Menschen in seiner Eigenschaft als Homo sapiens: Die „Gattungsethik“ drohe sich zu ändern, und dieser Umstand ziehe weitreichende Folgen nach sich. Denn die Auffassungen vom vorpersonalen Leben bildeten einen „Einbettungskontext, der nicht wegbrechen darf, wenn nicht die Moral selbst ins Rutschen kommen soll“. Dem Theoretiker des kommunikativen Handelns gerät, mit anderen Worten, die Gattungsidentität zur Basis für den Überbau des moralischen Bewusstseins.

Die Entschlüsselung des Genoms rüttelt am Selbstverständnis des Homo sapiens

Um die von der Biotechnologie provozierten Neuerungen begrifflich genauer zu fassen, zieht er eine Unterscheidung aus der Anthropologie Helmuth Plessners heran. Wenn sich eine geborene Person zugleich durch „Leibsein“ und – das erst in der Jugend erlernte – „Körperhaben“ auszeichne, dann unterhöhlten gentechnische Eingriffe gerade den als ursprünglich erfahrenen Modus des Leibseins: Das einst Unverfügbare ist in Manipulierbares überführt. Oder, im durchgespielten Szenario eines konkreten Eingriffs: Wenn ein in seinen Erbanlagen manipulierter Heranwachsender über seine Programmierung informiert werde, erfahre er den vermeintlich naturwüchsigen Leib als etwas Gemachtes – geplant von Eltern, die dem Kind jedoch nicht „die Möglichkeit zu einer revidierenden Stellungnahme“ einräumen. Mit dieser Formulierung beginnt die Übersetzung des Problems in die Sprache der Diskursethik: „Die Eltern haben ohne Konsensunterstellung allein nach eigenen Präferenzen so entschieden, als verfügten sie über eine Sache. Da sich aber die Sache zur Person entwickelt, nimmt der egozentrische Eingriff den Sinn einer kommunikativen Handlung an, die für den Heranwachsenden existentielle Folgen haben könnte.“

Bevor die Analyse aber zur Bewertung schreitet, erinnert Habermas einmal mehr an die Geburt der Diskursethik aus dem Geist des kategorischen Imperativs – alle möglicherweise Betroffenen einer Norm müssen ihr als Diskursteilnehmer zustimmen können –, um schließlich das Ergebnis zu formulieren: „Eine genetische Intervention eröffnet nicht den kommunikativen Spielraum, das geplante Kind als eine zweite Person anzusprechen und in einen Verständigungsprozess einzubeziehen. [. . .] Die hadernde Auseinandersetzung mit der genetisch fixierten Absicht einer dritten Person ist ohne Ausweg.“ Anders als in der Konfrontation etwa mit zurückliegenden Erziehungsprozessen sei eine kommunikative Auseinandersetzung mit dem genetische Programm unmöglich, dem Kind bleibe die Aussicht verwehrt, „der ungeteilte Autor des eigenen Lebens“ zu werden. Kurz, zwischen den Generationen entstehe ein „Paternalismus eigener Art“.

Der Witz dieser Analyse besteht darin, den menschlichen Zellhaufen antizipatorisch als Diskursteilnehmer zuzulassen. In einer Theorie, die doch auf dem rational argumentierenden, autonom handelnden Subjekt basiert, ist das nicht ohne Ironie. In einem Punkt hat er es jedoch geschafft, eine unproduktive Gegenüberstellung zu vermeiden. Habermas hat es geschafft, sich dem müßigen Feilschen um das richtige Datum, von dem an die grundgesetzlich verbriefte Menschenwürde gilt, auf höchst plausible Weise zu entziehen. Was nicht heißt, dass nun aus Habermas ein Dekonstruktivist geworden wäre: Seine Begriffe von Subjekt, Objekt und Autonomie bleiben intakt.

Jürgen Habermas: „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, 128 Seiten, 28 DM (14,30 €)Jürgen Habermas: „Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, 196 Seiten, 19,90 DM (10 €)