Goethe mit Goldkettchen

■ Entschlackt und mit bröseligem Mobiliar ausgestattet: Jan Bosses „Clavigo“-Inszenierung am Schauspielhaus deckt brüchige Beziehungswelten auf

Alle Möbel sind marode: Bürodrehsessel fallen wie Pappkartons auseinander, Liegestühle brechen zusammen, ein zerknitterter Sonnenschirm lässt sich nicht mehr aufspannen. So brüchig wie die Liebe zwischen Clavigo und Marie, so fragil ist auch deren unmittelbare Umgebung.

Für Goethes Trauerspiel um den wankelmütigen Schriftsteller, der sich zwischen Liebe und Karriere nicht entscheiden kann, findet Jan Bosse, Hausregisseur am Schauspielhaus, umso klarere Bilder. Er reduziert das Personal auf vier Figuren, setzt Maries Tod in einer traumartigen Sequenz an den Anfang, streicht die melodramatische Schlussszene, bringt dafür jede Menge Witz und Leichtigkeit hinein – und bleibt doch ganz beim Kern des Stücks.

Der ehrgeizige Clavigo (Samuel Weiss) ist bei Bosse ein eitler Emporkömmling, der sich im Grunde zutiefst klein fühlt und das mangelnde Selbstbewusstsein mit go-ckeligem Gehabe übertüncht. Wie sein Freund (großartig in der Doppelrolle als Carlos/Beaumarchais: Wolfram Koch) trägt er als Ausdruck modernen Karrierestrebens Anzug und Krawatte und darüber noch, als irritierendes i-Tüpfelchen, einige Goldkettchen.

Wie ein Zuhälter hat er sich mit Maries Hilfe den Aufstieg in den königlichen Hof erkämpft. Angestachelt vom kühl kalkulierenden Freund, lässt er sie fallen; vom Bruder der Verlassenen unter Druck gesetzt, kehrt er später vorübergehend zu ihr zurück.

So treffend und amüsant sich die Männer als Machos in Szene setzen dürfen, so wenig nachvollziehbar agieren die Frauen. Ja, die Gefühlswelt der Frauen: bei Goethe ein Rätsel, bei Bosse leider auch. Trotz ihres herben Auftretens bleibt Marie (Caroline Peters) letztlich passiv. Wie Clavigo ist sie ein Fähnlein im Wind, doch ihr Schwanken zwischen Liebe und Gleichgültigkeit kommt allzu unvermittelt. Gerade hat sie sich noch verliebt dem reumütigen Clavigo zugeneigt, da wendet sie sich schon wieder brüsk ab, küsst ihn plötzlich, sitzt schließlich stocksteif da. Selbst Maries ältere Schwester Sophie (Christiane von Poelnitz), beim Dichter die klassisch Vernünftige, bekommt unberechenbare Wutanfälle.

Trotz einiger Ungereimtheiten gelingen Bosse viele intensive Momente, in denen die Abhängigkeiten der Protagonisten deutlich werden – etwa wenn Carlos wie ein Marionettenspieler Clavigos Arme lenkt oder Marie stumm bleibt, während die Schwester für sie antwortet. Anfangs mag man noch über die Slapsticknummern mit zusammenbrechendem Mobiliar irritiert sein. Spätestens in der Rückschau fügen sie sich jedoch zum konsequenten Ausdruck einer brüchigen Beziehungswelt. Und zum Schluss ist Clavigo nicht tot, aber ganz allein.

Karin Liebe

nächste Vorstellungen: 18. + 27. 10. , 20 Uhr, Schauspielhaus