Anschlag oder bloß ein Versehen?

Auch einen Tag nach dem Absturz des russischen Passagierflugzeuges herrscht weiter Unklarheit über die Unglücksursache. Innenpolitisch wäre die Version eines Terroraktes für Russlands Präsident in der derzeitigen Lage die günstigste Variante

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

„Luftterrorismus nach Russland exportiert?“, fragte die Nesawissimaja Gaseta einen Tag nach nach dem Absturz der Passagiermaschine TU-154 über dem Schwarzen Meer, bei dem vermutlich alle 76 Insassen ums Leben kamen. „Die erfahrensten Kämpfer gegen den Terrorismus haben kapituliert“, bemerkte die Zeitung sarkastisch.

Sie spielte damit auf die jüngsten Äußerungen von Präsident Wladimir Putin an, der Moskau der Anti-Terror-Allianz noch vergangene Woche als Partner empfohlen hatte, da Russland mit den Auswüchsen des internationalen Terrorismus schon länger ringe als der Westen. Man sei den Terroristen zu Dank verpflichtet, dass sie die Maschine nicht in ein Hochhaus oder die Residenz des Präsidenten gesteuert hätten, meinte das Blatt ironisch.

Andere Pressestimmen reagierten nicht ganz so emotional. Die meisten gehen unterdessen davon aus, dass die Untersuchungen die Vermutungen eines terroristischen Sabotageaktes bestätigen werden. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat gestern ein Untersuchungsverfahren wegen des Verdachts auf einen „Terrorakt“ eröffnet.

Kremlchef Wladimir Putin äußerte sich indes vorsichtiger als noch am Vortag. Er forderte die Medien auf, von einer „Sensationsmache“ abzusehen und die Ergebnisse der Ermittlungen abzuwarten. Erst nach Laboruntersuchungen der Wrackteile könnten Spezialisten Schlüsse über die Absturzursache ziehen.

Rettungsmannschaften bargen inzwischen elf Leichen an der Absturzstelle 185 Kilometer südwestlich von dem russischen Badeort Adler. Die „Black Box“ der TU-154 konnten die Helfer bisher nicht sicherstellen.

Hinweise der US-Administration vom Vortag, der Absturz könne auch durch eine fehlgeleitete Rakete der ukrainischen Streitkräfte verursacht worden sein, wiesen der ukrainische Präsident Leonid Kutschma und Putin gestern zurück. Es gebe „absolut keine Grundlage“ für derartige Berichte, hatte Kutschma in einem Telefonat mit dem Kremlchef gesagt. Gleichwohl soll diese Version von der russischen Untersuchungskommission auch weiter verfolgt werden.

Aus gutem Grund. Ein Mitarbeiter des Pressestabes der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol hatte unmittelbar nach dem Absturz bestätigt, dass eine fehlgeleitete Rakete das Flugzeug vom Himmel geholt habe. Kapitän Igor Laritschew war gestern nicht mehr zu sprechen. Stattdessen bestritt der Chef der Presseabteilung, Andrej Krylow, vehement, Laritschew hätte solche Aussagen gemacht. Der Kapitän sei von der Agentur AFP falsch zitiert worden.

Auch ein Sprecher des ukrainischen Militärs wies die Vermutungen als unhaltbar zurück. Demnach wurden im Manöver nur Raketen mit einer Reichweite von 10 Kilometern abgefeuert. Das widerspricht Berichten der ukrainischen Militärs, die sich am Vorabend der Übungen auf der Krim damit brüsteten, russische S-200-, S-300- und S-125-Raketen einzusetzen. Diese könnten die 300 Kilometer bis zur Unglücksstelle überbrücken.

Laut Interfax scheint die russische Untersuchungskommission ein Versehen der Ukraine nicht ausschließen zu wollen. Weitere Aufklärung erwartet man von Aufzeichnungen ukrainischer Kontrollinstrumente, die der Kommandeur der russischen Luftstreitkräfte, Anatoli Kornukow, gestern nach Moskau bringen sollte. Der General nahm als Manöverbeobachter an den Übungen auf der Krim teil.

Sollte die Ursache kein terroristischer Anschlag sein, ist allerdings fraglich, ob die Gründe bekannt werden. Mehr als ein Jahr nach der Katastrophe auf dem U-Boot „Kursk“ hat die Regierungskomission keine neuen Erkenntnisse zutage gefördert. Der Kreml könnte auch versucht sein, die Ukraine und ihren Präsidenten vor peinlichen Enthüllungen zu bewahren. Nach Jahren des Bruderzwistes sind sich Moskau und Kiew wieder näher gekommen.

Auch aus Sicht der russischen Innenpolitik wäre es für Präsident Putin günstiger, die Terrorismusversion würde sich bestätigen. Im politischen Establishment ist der Schulterschluss Putins mit der westlichen Anti-Terror-Allianz weiter umstritten.