Total Furnishing Units

Kunststoffe wurden von Möbeldesignern erst in den 60ern entdeckt. Diese neuen Werkstoffe waren so flexibel und plastisch verwendbar, dass der Fantasie praktisch keine Grenzen mehr gesetzt waren

von MICHAEL KASISKE

Antipittoresk und antivolkstümlich – so können Kunststoffmöbel der 1960er Jahre charakterisiert werden. Denn im Gegensatz zu Metall und Holz, den bis dahin geläufigen Werkstoffen im Möbelbau, die aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften nur zu bestimmten Formen verarbeitet werden können, waren die flexiblen Kunststoffe ungleich plastischer einsetzbar. Damit bahnte sich eine formale Offensive im Lebensumfeld an, der die Unbeschwertheit der ersten überwiegend von der Nachkriegszeit geprägten Generation innewohnte.

Zum Kultobjekt des Kunststoffmobiliars ist der Universalstuhl des italienischen Designers Joe Colombo aufgestiegen. Vielleicht war sein Schöpfer ein kleiner Mann, jedenfalls wirkt der Stuhl mit seiner Sitzhöhe von 43 Zentimetern und der Höhe der Lehne von 71 Zentimetern ein wenig zu kurz geraten. Was den Sitzkomfort nicht schmälert: Wie bei allen Kunststoffen erwärmt sich das Material leicht durch die Körpertemperatur und auch die Sitzschale wirkt wie angegossen an den Sitzenden.

Nicht von ungefähr führt der Hersteller „Kartell“ den Stuhl als Klassiker im Programm. Denn anders als seine viel geläufigeren Zeitgenossen wie der „Bofinger-Stuhl“ von Helmut Bätzner – der heute oft in Retro-Design-Läden angeboten wird – oder der Stuhl „Selene“ von Vico Magistretti wird der Universalstuhl nach wie vor produziert, weil er nicht nur skulptural, sondern auch funktional ist: Man kann ihn dicht aneinander reihen, stapeln und die Beine abnehmen. Die englischen Architekten Alison und Peter Smithson bemerkten zu Recht, dass in diesem Möbel die Form dem Material entspricht.

Für die unzähligen Kunststoffmöbel und -leuchten von Colombo, der bereits 1971 im Alter von vierzig Jahren verstarb, ist die umgangssprachliche Bezeichnung „Plastik“ durchaus sinnstiftend. Seine Entwürfe wirkten funktional ausgetüftelt und formal wie Vorboten einer schillernden Zukunft. Joe Colombo sei ein Futurist gewesen, wird er von seinem Bruder Gianni beschrieben, der radikal mit der Vergangenheit gebrochen habe. Darin liegt die Vorliebe für Kunststoffe: Sein Beitrag zur „Visiona“ 1969 scheint viel mehr auf einen zukünftigen Gebrauch bezogen als etwa der unlängst im Vitra Design Museum Berlin rekonstruierte, eher atmosphärisch wirksame Raum von Verner Panton. Und bei „Total Furnishing Unit“ ging Colombo offensichtlich bereits 1971 von einer Umwelt aus, in der sich der Mensch in einem mit allen Funktionen versehenen, unabhängig vom Raum stehenden Monoblock „einloggt“.

Etwas von diesem multifunktionalen Flair atmet der Rollcontainer „Boby“. Mehr noch als der Stuhl erfreut sich das vielseitig einsetzbare Möbel in jüngerer Zeit wieder großer Beliebtheit. 1970 entwarf Colombo für „bieffeplast“ das von „B-line“ vertriebene mit Fächern und aufklappbaren Schubladen ausgestattete Stück auf vier Rollen – als flexible Ablage und Stauraum etwa für für Büroutensilien am Schreibtisch oder für Kosmetika im Bad. Je nach Nutzungsanspuch wird der Schrank in drei Höhen geliefert. Wurde „Boby“ zu seiner Entstehungszeit in allen poppigen Farben produziert, so gibt es ihn heute nur noch in Schwarz, Weiß, Rot und Hellblau.

Gegenwärtig sind es nur noch einige italienische Hersteller, die ausgewählte Kunststoffmöbel produzieren und vertreiben. Im Programm von „Poltronova“ erscheint das Liegeobjekt „Superonda“ von der Gruppe „Archizoom“ denn auch fast wie ein Exot. „Superonda“ heißt „Superwelle“ und bezeichnet einen Block aus Schaumstoff, der in Längsrichtung durch eine wellenförmige Linie zerschnitten wird. Zusammengelegt ist es eine 1 x 2,40 Meter große Liegefläche, auseinandergenommen wird das schmalere Stück als Rückenlehne auf das breitere Element gelegt. Oder man stellt die Elemente auf ihre Schmalseite und legt sich in die „Welle“. Bezogen ist „Superonda“ im Original mit kunststoffbeschichtetem Jet in Weiß, Blau oder Rot, jedoch wird das Liegeobjekt heute auch mit Stoffbezügen geliefert.

Der Hintergrund der „Radikalen Architektur“, auf die der Entwurf von „Superonda“ zurückgeht, ist eine gesellschaftskritische Haltung gegenüber dem gefälligen „Belle Design“. „Durch die Beseitigung der Arbeit wird die Wohnung zu einem Labor, das für ständige Versuche mit den eigenen kreativen Fähigkeiten zurVerfügung steht“, schrieb Archizoom 1971 in der Diktion des damaligen Hedonismus, „alle typologischen Präfigurationen und räumlichen Konstanten des Wohnens, wie es heute praktiziert wird, verschwinden aus ihm, um einer spontanen und unkontrollieren Gestaltung freien Raum zu lassen.“

Kartell im Stilwerk (www.kartell.it), Kantstraße 17, Berlin-Charlottenburg. B-line (www.b-line.it) z. B. bei Modus, Wielandstraße 27–28, Berlin-Charlottenburg. Poltronova (www.poltronova.it) u. a. bei Dopo_Domani, Kantstraße 148, Berlin-Charlottenburg.