„Das Kloster bin ich!“

Im evangelischen Stift Heiligengrabe in der Prignitz, eine Stunde von Berlin entfernt, wird heute die neue Äbtissin eingeführt. Bewahrt werden soll das Erbe weiblicher Schutzräume

von PHILIPP GESSLER

Walpurgis von Krosigk ist so verzweifelt, wie sich das für eine Dame gehört. Aber: Contenance! Verflixt nochmal, wo ist der Schlüssel zur Kasse? Eben war er noch da! Wie nun an die Einnahmen vom Verkauf der Postkarten und Infoheftchen über das Kloster Stift Heiligengrabe herankommen? So was!

Die 73-Jährige irrt hektisch aus der prächtigen „Blutkapelle“, einem Backsteinbau mit Staffelgiebel aus dem 16. Jahrhundert. Irgendwo in diesem mittelalterlichen Klosterbau samt Kreuzgang, dem „Damenplatz“ mit Fachwerkhäusern und den efeuumwucherten Wirtschaftsgebäuden, muss der Schlüssel doch sein!

Die Adlige kennt das Gelände so gut wie ihre Perlenkette, denn hier ging sie zur Schule. Von 1942 bis 1945, bis „die Russen“ kamen, lernte sie hier bei den Stiftsdamen von Heiligengrabe in der Prignitz: Ehrenwerte Frauen waren dies, die man mit Knicks und Handkuss grüßte. „Es war eine gute, lehrreiche und sehr schöne Zeit“, schwärmt von Krosigk – sie ist noch bis morgen hier, um in alter Treue ein wenig zu helfen. Denn morgen ist der große Tag: Nach fünf Jahren Vakanz wird die neue Äbtissin des Damenstifts eingeführt. Sie führt eine Tradition von mehr als siebenhundert Jahren fort, komplettiert erneut eine religiöse Frauengemeinschaft, die über Jahrhunderte in erster Linie eines war: „eine weibliche Lebenswelt in Brandenburg-Preußen“.

Nach diesem Motto ist eine Ausstellung konzipiert, die im Rahmen des Preußenjahres in diesem idyllischen Klosterkomplex zu sehen ist: Vorgestellt werden Schicksale von Frauen vor allem des 18. Jahrhunderts, von der Hofdame bis zur Bettlerin. Das Stift im Nordwesten Brandenburgs war über Jahrhunderte eine der wenigen Orte Preußens, wo die patriarchalische Gesellschaft weiblichen Freiraum erlaubte. Von einer frühen Stätte der Emanzipation zu reden wäre indes ein wenig übertrieben, aber ein Refugium weiblicher Selbstbehauptung war das Stift auf jeden Fall.

„Es gibt tausend Gründe, ein Kloster zu gründen“, erklärt Christa Schwede in der Stiftskirche gleich neben der Klausur, dem geschlossenen Teil des Klosters. Die 67-Jährige ist eine Stiftsdame und sieht sich in der uralten Tradition ihres Hauses: Gegründet 1287 als Zisterzienserinnenkonvent vom brandenburgischen Landesherrn Otto dem Langen, war der Aufbau des Klosters für den Markgrafen in erster Linie eine Maßnahme zur Herrschaftssicherung: Die Nonnen brachten die abgelegenene Gegend mit ihren Kenntnisse der Landwirtschaft, der Viehzucht und der Heilkunst zur Blüte.

Bald wurden von ihnen 16.000 Hektar bearbeitet. Mit ihren karitativen Hilfen wie etwa dem Speisen von Bettlern, aber auch der Erziehung von Kindern der siebzehn Dörfer unter ihrer Aufsicht wurde das Kloster zu einem Ort des Friedens und Fortschritts. Die Frauen der Gegend drängten in den Konvent, erzählt Christa Schwede, da die „Ehe mit Christus“ höher angesehen wurde als das Leben mit einem irdischen Mann – und wohl oft auch angenehmer war.

Zugleich bot der Landesherr mit Gründung des Klosters den unverheiratet gebliebenen Töchtern oder Witwen seines Adels die Möglichkeit eines gesicherten und ehrenhaften Lebens. Natürlich mussten die Frauen dafür die drei Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit ablegen – doch zugleich gewannen sie innerhalb dieser Grenzen an Freiheit, ihr eigenes Leben zu leben und ihre (intellektuellen) Talente zu entwickeln. Die Äbtissinnen waren Managerinnen einer zeitweise mehr als hundertköpfigen Gemeinschaft von Nonnen und Gesinde, Richterinnen über eine ganze Region, einem Bischof im Rang gleichgestellt.

Das Modell war so erfolgreich, erzählt Christa Schwede, dass selbst die Reformation, die dem Klosterleben misstraute, ohne größeren Schaden über diese Frauen-WG hinweg ging. Zwar mussten die „Klosterfräuleins“, jetzt „Edeljungfrauen“ genannt, den lutherischen Glauben des Landesherrn annehmen. Es spricht jedoch für ihre Selbstständigkeit, dass sie dies erst nach viel Widerstand akzeptierten: Kurfürst Joachim II. musste viel Zwang anwenden, um den Frauen die Reformation nahe zu bringen. Ihre Ordenstracht legten die Damen erst gut hundert Jahre später ab.

„Domina“, Herrin, war denn auch vorübergehend der neue, passende Titel der Leiterin des Klosters. Friedrich der Große stiftete 1742 einen Orden für die Frauengemeinschaft: par grace (aus Güte), ein weißes Kreuz mit blauem Herz. Er erhob das Kloster zum Stift, die „Edeljungfrauen“ wurden nun Stiftsdamen genannt. Sie sollten täglich für den Erhalt des Königshauses beten: pour la conservation de la maison royale, wie auf dem Stiftsorden stand.

Trotz dieser Nähe zum König entwickelte sich das Stift zu einer Insel der Demokratie in einem monarchischen Meer: Die Äbtissin wurde aus dem Kreis der Stiftsdamen gewählt und durch königliche Order lediglich bestätigt. Männer hatten an diesem Frauenort nur als Stiftshauptmann etwas zu sagen. Auch dieser wurde jedoch vom Konvent bestimmt und hatte nur gewisse Verwaltungsaufgaben zu übernehmen.

Wer in das Stift eintreten wollte – manche Familien meldeten schon ihre jungen Töchter an –, musste adelig und evangelisch sein. Die knapp dreißig Stiftsdamen versprachen ihrer Äbtissin nicht mehr Armut, Gehorsam und Keuschheit wie einst, aber immerhin einen gottesfürchtigen und untadeligen Lebenswandel. Heiraten durften die Stiftsdamen auch – was ihnen mit katholischem Bekenntnis verwehrt geblieben wäre. Dann aber mussten sie aus dem Konvent austreten.

Wie hoch angesehen Stiftsdamen waren, zeigt die Tatsache, dass die Äbtissin im Hofzeremoniell gleich hinter der Königin gehen durfte. Selbstbewusstsein war den Äbtissinnen selbstverständlich: Harsche Briefwechsel zwischen Herrscher und Äbtissin gab es, wenn der König eine Dame in das Stift hineindrücken wollte – und nicht immer behielt er das letzte Wort.

Eine der streitbaren Äbtissinnen war Juliana Augusta Henrietta von Winterfeld. „Ihr Leben war thätig, Ihr Alter heiter und froh, Ihr Tod sanft“, steht auf ihrem Epitaph hinter dem Altar der Stiftskirche. Christa Schwede zeigt auf die graue Steinplatte halb belustigt, halb stolz. Der Kopf einer alten Frau in strenger Haube ist zu sehen, aber man erkennt doch auch noch das aufgeweckte Gesicht der jungen Äbtissin, die sich 1752 mit dem ganzen Konvent malen ließ. Mehr als fünfzig Jahre leitete von Winterfeld das Konvent, oft in Opposition zu den königlichen Wünschen.

Fast ebenso lang amtierte nur noch Ingeborg Maria Freiin von Werthern, erzählt Christa Schwede. Fast während der gesamten DDR-Ära, seit 1952 (bis 1995), war Freiin von Werthern Äbtissin des Klosters, eine preußische Offizierstochter mit Ia-Examina. Sie war „sehr markant“, sagt Schwede: Nachdem ihre letzten Stiftsdamen in den Achtzigerjahren weggestorben waren, fertigte sie Journalisten, die nach dem Stift fragten, mit der Aussage ab: „Das Stift bin ich.“

Das beeindruckende Wesen dieser Äbtissin ist für Christa Schwede ein Hauptgrund, weshalb die pensionierte Gymnasiallehrerin für Deutsch und Religion sich 1996 entschloss, eine Stiftsdame zu werden: Da lebte die alte Äbtissin noch, die die junge Christa konfirmiert hatte, als sie von 1947 bis 1953 in Heiligengrabe lebte: Christa war Mitglied in der Jungen Gemeinde und flog deshalb in dieser stalinistischen Zeit von der Schule, worauf ihre Familie in den Westen übersiedelte.

Es war „ein Stück Nach-Hause-Kommen“, erklärt Christa Schwede ihren Schritt von 1996. Nach der Pensionierung habe sie sich noch fit gefühlt und im Leben einer Stiftsdame die Möglichkeit gesehen, ihr schon immer betriebenes ehrenamtliches Engagement weiter zu führen. Schwede kümmert sich in dem Klosterkomplex vor allem um die Führungen und organisiert die jährlich stattfinden Sommerkonzerte.

Wie die andere Stiftsdame, Rosemaria Geiger, hat sie eine Wohnung in einem Backsteinhäuschen auf dem Gelände. Es ist eine in den vergangenen Jahrzehnten heruntergekommene Idylle. Schätzungen von Bauexperten zufolge müssten etwa dreißig bis fünfzig Millionen Mark zur Restaurierung der Klosteranlage investiert werden: „Da freue ich mich schon über jede Mark“, sagt Christa Schwede, „für einige Ziegel reicht es immer.“

Vor diesen Schwierigkeiten wird bald auch Friederike Rupprecht stehen. Bis zum Ende des vergangenen Jahres war die Sechzigjährige Pfarrerin in Karlsruhe tätig – von morgen an wird sie die neue Äbtissin in Heiligengrabe sein. Ihre drei Söhne sind aus dem Haus, ihr Mann vor zehn Jahren gestorben. Jetzt, im Frühruhestand, ist sie gespannt auf diese „richtige Aufbauarbeit“. Im Stift will sie das Leben mit den Damen durch regelmäßige Gebete noch stärker religiös strukturieren. Dieses „geistliche Zentrum“ soll Rüstzeiten anbieten und interreligiöse Gesprächsrunden, ein Haus für mit helfende Gäste. Ein Problem dabei ist, dass der Konvent nach der Enteignung des Stifts zu DDR-Zeiten niemanden mehr ernähren kann – nur pensionierte, wirtschaftlich unabhängige oder nebenher anderswo arbeitende Frauen werden sich dieses Leben zunächst leisten können. Kein leichter Neubeginn.

Aber von diesen Sorgen ist in der „Blutkapelle“ nicht viel zu spüren: Christa Schwede, Rosemaria Geiger und Walpurgis von Krosigk tauschen Geschichten aus – von jener Zeit zwischen 1847 bis 1945, als die Stiftsdamen noch in der Klausur eine „Erziehungsanstalt für Töchter aus verarmten adeligen Familien“ führten. Rosemaria Geiger erzählt, wie sie sich vorm BDM drückte, indem sie sich für den Tanz bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spielen 1936 in Berlin zur Verfügung stellte: „Ich hatte Keulen.“ Ein Vierteljahr keine Schule!

Walpurgis von Krosigk hat bei diesem Tratsch rote Bäckchen bekommen, und sie selbst schildert eindringlich, wie hässlich die damaligen Schuluniformen („Blutwurstkleider“) waren. Schließlich kommt auch noch der junge Mann vom Sicherheitsdienst „Power Team“ vorbei, dessen Dienste für die Ausstellung gemietet wurden. Mit einem Dietrich macht er sich in einer Ecke der Kapelle an der Kasse zu schaffen. „Power Dietrich“ murmelt Christa Schwede den anderen Damen halblaut zu. Die ehrenwerten Frauen kichern.

PHILIPP GESSLER, 34, taz-Berlinredakteur, hat in den Siebzigerjahren ein Franziskanergymnasium im Südhessischen besucht