Für die Zukunft lügen

„Rhetorik ist die Kunst, auf elegante Weise etwas zu sagen, von dem man nicht weiß, ob es wahr ist“: Umberto Eco stellte im Renaissance-Theater seinen neuen Roman vor

Der Ort hätte nicht besser gewählt sein können, um Umberto Ecos brandneuen Roman „Baudolino“ vorzustellen. Schließlich handelt das mittelalterliche 600-Seiten-Epos vom sprachbegabten Lügner und christlichen Pilger Baudolino zu Zeiten Barbarossas – als der Streit zwischen Kaiser und Papst das weltliche und kirchliche Herrschaftsgefüge erschütterte und so den Ausgangspunkt der Renaissance in Italien markierte. Das mit Holzfresken verzierte Theater ist bis auf den letzten Platz ausverkauft, die Atmosphäre ist erwartungsvoll. Der Abend beginnt mit einem Cembalo-Flöten-Duo und drei zaghaften Versuchen des jungen, schüchternen Cembalospielers, während des verdienten Applauses die Hand der Flötenspielerin zu ergreifen, um sie gemeinsam, so wie man es eben kennt, triumphal nach oben zu strecken. Das Publikum lacht gerührt.

Dann tritt Eco auf, lässig, freundlich lächelnd und selbstbewusst. Der 27-fache (!) Ehrendoktorträger, Bestsellerautor und Semiotiker liest auf Italienisch eine kurze Passage aus dem Anfangsteil. Darin verfasst der etwa 13-jährige Baudolino erste Schreibübungen in seinem heimatlichen Dialekt. Später wird der alte Baudolino dies als den ersten Versuch ausgeben, „so zu schreiben, wie wir sprachen“, also nicht auf Latein, sondern alltagssprachlich. Dabei gerät Eco in Fahrt, liest fast ohne zu atmen, bis er schließlich theatralisch und nach Lauft ringend auf das Buch sinkt. Das Publikum jubelt. Und als der Schauspieler Udo Samel einige Stellen aus der deutschen Ausgabe vorträgt, muss Eco insgesamt dreimal in sein großes weißes Taschentuch niesen, einmal nach „genau so ist das“. Eco hat alles im Griff.

Der Höhepunkt des Abends aber ist das Gespräch zwischen Moderator und Ex-Kultursenator Christoph Stölzl und dem Autor. Stölzl liefert Eco immer wieder Stichworte, die dieser gut gelaunt aufnimmt und wild gestikulierend und augenzwinkernd beantwortet. Etwa, dass alle großen Philosophen Romane geschrieben haben, diese aber entweder nicht veröffentlicht wurden, oder wenn ja – hier eine Kunstpause –, „dann hat es niemand bemerkt“. Den größten Spaß habe es ihm aber gemacht, zu erklären, wie die zahlreichen Fabelwesen und Monster, die Baudolino auf seiner Suche nach dem Reich des Presbyters Johannes irgendwo in Indien trifft, eigentlich „funktionieren“. Wo denn bei einem Wesen, das nur ein Bein habe, bitte schön der Penis sei, oder was Monster beim Geschlechtsverkehr mit ihren riesigen Ohren machen. Denn, so einer der Schlüsselsätze des Romans: „Rhetorik ist die Kunst, auf elegante Weise etwas zu sagen, von dem man nicht sicher weiß, ob es wahr ist.“

Eco füllt so historische Wissenslücken ebenso aus, wie er Wahrheiten umdeutet und verändert, um zu zeigen, dass „Geschichte durch Spielerei mit der Sprache gemacht wird“. Aber er sieht Baudolino, der das seltene Problem besitzt, dass alles, was er wissentlich erfindet, irgendwann zur Wahrheit wird, nicht als einen einfachen Lügner. Vielmehr sei dieser ein „Lügner im Hinblick auf die Zukunft“, daher ein Visionär, wie es in der wirklichen Welt eben leider auch ein Bin Laden sei. Aber natürlich auch ein Umberto Eco, denn „Baudolino“ ist ein „Bildungsroman als Schelmenroman“, wie er sagt, und daher habe er ein neues literarisches Genre erfunden. Am Ende des Abends gibt es noch einmal mittelalterliche Musik und Blumen. Eco versucht, sie in sein Mineralwasserglas zu stellen. Es will nicht gelingen. Darum schenkt er sie der Flötistin.

JÖRG PETRASCH