Rutschende Normen

Ein Workshop des Wissenschaftssommers beschäftigte sich mit veränderten Weltbildern und sozialen Folgen der Gentechnik. Aber inzwischen wechseln anderswo die Weltbilder

Schweigeminute: hängende Köpfe, hilflose Blicke. Regungslos saßen sie da, die 14 ReferentInnen und gerade mal 7 ZuhörerInnen, die sich am Freitag im Wissenschaftszentrum Berlin zum Workshop mit dem umständlichen Titel „Soziologische Aufklärung zu den Lebenswissenschaften“ zusammengefunden hatten. Ein Zuhörer auf zwei Referenten – der Terror in den USA hat ein großes Thema klein geschrumpft. Galt es doch eigentlich Hochinteressantes zu beleuchten: Hat sich das hiesige Weltbild durch die Gentechnik in Richtung eines neues Biologismus oder genetischen Determinismus verschoben?

Während sich aber die Weltbilder gerade in eine ganz andere Richtung neu formieren – the West against the rest –, hantierten die ReferentInnen haufenweise mit längst veralteten Daten. Heiner Meulemann aus Köln zum Beispiel wartete unter anderem mit einer Umfrage aus dem Jahre 1992 auf. Was sei wichtiger für das Vorwärtskommen, angeborene Fähigkeiten oder Ausbildung und Leistung, lautete die Frage. Leistung, antworteten rund 60 Prozent, Angeborenes, glaubten 40 etwa Prozent. Hat dieser Prozentsatz zugenommen durch die Gendebatte zugenommen? Tja. Sorry. Keine vergleichbaren Umfragen verfügbar.

Noch enttäuschender war die „Medienanalyse“, die Urs Dahinden aus Zürich präsentierte. In einer groß angelegten Studie im Auftrag der Europäischen Kommission werden die Medienreaktionen auf das Thema Biotechnologie in 17 europäischen Ländern untersucht. Dass die FAZ 1999 über 600 Artikel zum Thema veröffentlichte, ist alles, was man erfährt. Auch Ulrich Gebhard aus Hamburg, der Alltagsmythen von Jugendlichen zum Thema Gentechnik erforscht, konnte nicht viel klarere Ergebnisse liefern. Zwar fand Gebhard so manche seltsamen naturalistischen oder sozialdarwinistischen Argumentationsmuster. Gentherapie sei schlecht für die natürliche Auslese, argumentierten einige Jugendliche. Was aber bedeuten solche Ergebnisse? Im Grunde spiegelten sie doch nicht mehr als einige Inhalte des Biologie- und Ethikunterrichts, hielt ein anderer Wissenschaftler dem entgegen.

Nur Hans-Georg Soeffner aus Konstanz, der die sozialen Wirkungen der Reproduktionsmedizin untersucht hat, wartete mit deutlichen Aussagen auf. Der Großteil der vorsprechenden Paare mit „Kinderwunsch“ sei religiös orientiert und wünsche sich, quasi die Heilige Familie zu reproduzieren. Anders als bei vielen nichtreligiösen Paaren komme für solche Menschen die Adoption eines Kindes nicht in Frage, weil damit die Mutterschaft wegfiele. Auch das Heilsversprechen der Reproduktionsmedizin sei eben religiös aufgeladen. Gentechnik und Repromedizin, merkte Soeffner kritisch an, dehnten dabei den Krankheitsbegriff enorm aus und trügen so ihren Teil bei zur großen Krise des Gesundheitswesens. UTE SCHEUB