Außerhalb von Recht, Gesetz, Ehre

Weil es keinen klaren Feind gibt, gegen die sie ihre Truppen in Marsch setzen können, erklären die USA nun dem Bösen schlechthin den Krieg

Es scheint, als sollte die Behauptung Recht behalten: Der Gotteskrieger selbst ist die Waffe, nicht sein Schwert

von NIELS WERBER

US-Sicherheitsexperten haben mit einem Angriff im Innern des Landes seit längerem gerechnet. Der ehemalige FBI-Direktor Michael A. Vatis etwa warnte vor einer „neuen Verwundbarkeit“ von Wirtschaft und Staat durch „Cyber-Attacken“. Die USA, deren Gegner seit einem Jahrhundert Tausende von Meilen von ihren Küsten entfernt waren, haben eine neue Grenze, die „Fünfte Dimension“ des Cyberspace, und einen neuen Feind, der mittels Medien im Innersten zuschlagen könnte.

Die weltweite telekommunikative Vernetzung lässt die physische Grenze und ihre Sicherung hinfällig werden. Das US-Militär und ihre Think-Tanks begannen unter den Stichworten Information Warfare und Cyberwar über Hacker-Attacken und Computerviren nachzudenken.

Nachdem auch alle Rechner des Pentagon auf dem freien Markt gekauft wurden und nicht besser oder schlechter waren als die PCs auf unseren Schreibtischen, herrschte zwischen der Supermacht und dem Computer-Nerd „waffentechnische Chancengleichheit“. Das Internet galt als Einfalltor – überall auf der Welt könnte der Rechner stehen, um die Cyber-Attacke gegen die hoch technisierten USA vorzutragen, die ihnen die Handlungsfähigkeit rauben könnte.

„Nicht umsonst imaginiert ein famoses InfoWar-Szenario der Rand Corporation den Fall, dass im Jahr 2002 die USA ihren militärischen Beistand für ein einstürzendes saudisches Herrscherhaus einfach darum zurückziehen, weil Airbusse voll amerikanischer Touristen wie Steine vom Himmel über Chicago fallen“, deren Software sabotiert wurde (Friedrich Kittler). Die vereinigten Streitkräfte der USA haben begonnen, sich auf den Cyberwar einzustellen. Die so genannte Joint Vision 2020 der Joint Chiefs of Staff fordert von der Armee der Zukunft eine „full spectrum dominance in all domains – space, sea, land, air, and information“, eine Überlegenheit auf allen Gebieten also, ob Weltraum, Meere, Land, Luft und Information.

Es ist nun ganz anders gekommen. Die Flugzeuge fielen nicht vom Himmel. Die Flugzeuge wurden entführt, und die neuen Herren im Cockpit zwangen sie zu tödlichen Kursänderungen. Ein CIA-Experte für Counter-Terrorism bezeichnete die größte terroristische Operation aller Zeiten mit der Formel „low tech – high concept“. Gut ausgebildete Terroristen benötigen möglicherweise nicht einmal Waffen, um die Piloten zu überwältigen und zivile Maschinen in furchtbare, mit Zehntausenden von Litern Kerosin gefüllte Waffen zu verwandeln.

Dafür war nicht jenes Hightech-Equipment nötig, das die Info-War-Experten in ihren Szenarien Hollywood-gerecht herbeischrieben, sondern ein paar hundert Dollar für Flugtickets und die feste Entschlossenheit, sich selbst und anderen den Tod zu geben. Die „einzige Weltmacht“, deren militärische „Hegemonie“ alle „Kriegsgefahr vom Tisch“ gewischt hat (Zbigniew Brzezinski), wurde nicht von der befürchteten Proliferation von ABC-Waffen und Raketentechnologie an rogue states getroffen, sondern von einem todesbereiten Dutzend.

Auch wenn George W. Bush die Army in Alarmbereitschaft versetzt – sein Versprechen, „to protect the American people“, wird er nicht halten können, denn der neue Feind kann von keiner Armee besiegt werden.

Während die US Air Force verzweifelt Jagdflugzeuge aufsteigen lässt, um die Luftherrschaft über New York und Washington, D. C., symbolisch wiederzugewinnen, erklären Sicherheitsberater und Terrorexperten resigniert, gegen derartige Angriffe gebe es keinen Schutz, da jedes Fahrzeug: Schiffe, Autos, Busse, zur Waffe werden kann. Es scheint, als sollten die religiösen Führer der arabischen Selbstmordkommandos Recht mit ihrer Behauptung behalten, der Gotteskrieger selbst sei die Waffe, nicht sein Schwert.

US-Politiker sprachen gestern vom einem Krieg, der mitten im Frieden, ohne Kriegserklärung, mit einem grauenhaften Erstschlag begonnen habe. Nicht nur Henry Kissinger erinnerte an Pearl Harbour. Doch anders als im Falle des japanischen Angriffs haben es die USA mit keinem staatlichen Feind zu tun. Der Revanche, nach der sich die USA nun sehnen, fehlt das Ziel. Die Spekulation, der Superterrorist Ussama Bin Laden sei nach den Anschlägen auf Botschaften und Kriegsschiffe auch diesmal der Drahtzieher, offenbart vermutlich weniger die tatsächliche Verantwortung als den verzweifelten Wunsch, einen Feind zu benennen, der samt seinen Freunden bekämpft werden kann.

Erfahrene kalte Krieger haben umgehend gefordert, Vergeltungsaktionen nicht auf Einzeltäter zu beschränken, sondern auf alle auszuweiten, die den Attentaten ideologische und logistische Unterstützung gewährt haben oder die Hintermänner decken. Gefordert wird hier nicht juristische Strafverfolgung, sondern ein Krieg gegen einen Feind, doch der Feind ist – anders als Saddam Husseins Irak – namenlos und ortlos.

Nachdem die USA in Vietnam auf fremdem Boden einen Partisanenkrieg verloren geben mussten, werden sie nun mit Partisanen konfrontiert, die auf ihrem eigenen Territorium operieren. Der Partisan, so definiert Carl Schmitt in seiner Theorie des Partisanen aus dem Jahre 1963, kämpft außerhalb des völkerrechtlich gehegten Krieges. Die Unterscheidungen von Kombattant und Nichtkombattant, Krieg und Frieden, Feind und Verbrecher ignoriert er. Er kämpft irregulär gegen Soldaten wie Zivilisten. Er meidet die Schlacht und tritt lieber als Heckenschütze oder Attentäter auf. Partisanen agieren „riskant“, denn sie wagen nicht nur wie jeder „reguläre Kombattant“ ihr Leben, sondern lassen es auch „darauf ankommen, dass ihn der Feind außerhalb von Recht, Gesetz und Ehre stellt“.

Dies ist gestern umgehend geschehen: Der Angriff wurde als monströs und barbarisch bezeichnet, als Anschlag auf die Menschheit und die Zivilisation. Der Angreifer ist dementsprechend Barbar, Monster, Unmensch. Am deutlichsten wurde Peres, der die Attentäter als „evil people“ bezeichnete. Auf ihren Angriff reagiert der Staat mit der Erklärung der „absoluten Feindschaft“, die im Feind nicht einen völkerrechtlich anerkannten Gegner sieht, sondern einen Unmenschen, dessen Bekämpfung folglich keine Rücksicht auf Völker-, Kriegs- oder Menschenrecht zu nehmen braucht.

Genau auf dieser Grundlage erfolgte auch der gestrige Angriff auf die Zivilbevölkerung eines Landes im Frieden. Hier beginnt womöglich eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Engeln und Teufeln, die umso härter und erbarmungsloser geführt werden kann, als die Gegner sich gegenseitig nicht als Menschen anerkennen.

Der Partisan hält sich nicht für einen Terroristen, so Schmitt, denn er bezieht von Dritten seine Legitimität. Dieser „Dritte liefert nicht nur Waffen und Munition, Geld, materielle Hilfsmittel und Medikamente aller Art, er verschafft auch die Art politischer Anerkennung, deren der irregulär kämpfende Partisan bedarf, um nicht, wie der Räuber und der Pirat, ins Unpolitische, das bedeutet hier: ins Kriminelle abzusinken“. So wurde doch noch ein Staat ins Spiel gebracht, der den Partisanen, der von seinem Gegner als Terrorist behandelt wurde, legitimierte. Die USA haben sich bereits auf die Suche nach diesen „interessierten Dritten“ begeben. Doch scheinen die Partisanen tatsächlich ihre Legitimität von geistlichen Führern zu beziehen statt von Staaten.

Dies verkompliziert die Sache, denn während man einen Staat mit Sanktionen, diplomatischen und militärischen Maßnahmen bekriegen kann, weil seine Institutionen lokalisierbar sind, entziehen sich religiöse Motive solch eindeutiger Zurechenbarkeit im Raum. Daher das Vokabular der absoluten Feindschaft: Weil es keinen Feind gibt, gegen den man die 6. Flotte in Bewegung setzen könnte, erklärt man dem Bösen schlechthin den Krieg.

Dem Versuch Kissingers und anderer, über Bin Laden eine Verantwortung der islamischen Republik Afghanistan zu konstruieren, entsprach das zeitgleiche Dementi der Taliban-Führung, irgendetwas mit den Anschlägen zu tun zu haben. Kein Staat der Welt wagt es, sich auf einen Waffengang mit den USA einzulassen oder auch nur den Kontinent zu bedrohen.

Umgeben von Tausende von Meilen vorgezogenen Brückenköpfen lag Amerika unverletzlich da – bis gestern. „Terror gegen Amerika“ oder „Angriff auf Amerika“ titelten die unzähligen Sondersendungen, wie um den Untergang jener Monroe-Doktrin zu bezeichnen, die über ein Jahrhundert nicht allein für den Schutz der USA, sondern des gesamten Kontinents gegen die Intervention raumfremder Mächte stand. Die New Missile Defense sollte die von Raketen bedrohte Geltung der Doktrin für eine weitere Epoche schützen, ein Cyber Shield sollte das Gleiche für die fünfte Dimension des Information Warfare leisten. Die absolute Todes- und Tötungsbereitschaft religiöser Fanatiker hat dieser Epoche ein Ende gemacht, bevor sie beginnen konnte. Die USA sind verwundbar, probate Verteidigungsmaßnahmen fehlen.

Über Attentäter schreibt Machiavelli 1519 in seinen „Discorsi“, dass „die meisten oder fast alle bei der Tat niedergemacht werden. Wenig Menschen finden sich daher, die in einen gewissen Tod gehen wollen.“ Wer sich dazu aber mit „festem Willen“ entschließe, sei nicht aufzuhalten, es gebe dagegen keinerlei Schutz.

Solange ganze Generationen in den Flüchtlingslagern der Welt ohne jede zivile Perspektive heranwachsen, wird es an todesbereiten Kämpfern nicht fehlen. Es wird sich zeigen, ob die USA den langen Kampf um diese Perspektive aufnehmen wollen oder es vorziehen, auf den terroristischen Angriff mit entsprechenden Repressalien zu reagieren. Sollten in den nächsten Tagen Stealth-Bomber abheben und Cruise Missiles starten, dann beginnt weltweit eine Epoche der absoluten Feindschaft.