schnittplatz
: MTV für Senioren

Gratulieren Sie keinem über 60-jährigen Brandenburger werktags zwischen 16.00 und 16.58 Uhr zum Geburtstag, und wochenends nicht zwischen neun und zehn – er wird Sie sonst aufs Übelste beschimpfen. Sitzt er in dieser knappen Stunde doch vor dem Fernseher, schaut auf ORB die „Glückwunsch-Antenne“ und wartet, dass ihm jemand gratuliert. Diese Sendung macht nicht nur Freude, sie kostet auch nix, denn sie ist Radio mit Bild.

Links steht ein Tischchen mit einem Strauß oranger Dahlien; daneben sitzt in einem Sessel ein Onkel mit Krawatte und Lesebrille und arbeitet mit einem Lächeln in der Stimme einen Stapel Briefe ab. Im Blue-Box- Hintergrund: Sonnenschein, der durch ein Fenster fällt. Rechts oben prangt ein schnörkeliges goldenes G. Im akustischen Hintergrund: dezente Klaviermusik, Ballade pour Adeleine.

Und Brandenburg hat wieder fleißig geschrieben. Da gratuliert der Gemeindekirchenrat dem Winfried zum 62sten und hofft: „Das aktive Leben soll natürlich auch andauern beim Wirken im Garten, im Haus und in der Familie.“ Da wünschen Kinder dem Papa, „dass du so bleibst, wie du bist“. Dazu wird ein Foto vom Papa und vom Dackel eingeblendet. Und der Moderator mosert milde lächelnd: „Uns würde ja das nächste Mal der Vorname vom Papa interessieren.“ Lore, Erika und Ingetraud gratulieren ihrer Stammtisch-Schwester Elsa, die Volkssolidarität Brandenburg und die Vorruherentner der IG Metall melden sich mit kurzem Gruß. Und schließlich wünscht ein Mann der Frau, mit der er seit 45 Jahren verheiratet ist, und sich selbst, dass sie beide noch viel miteinander unternehmen können. Geschickte Überleitung des Moderators: „Vielleicht denken sie ja in diesem Moment an Rhodos – genau so wie Oliver Haidt.“ Denn jetzt wird das erste Musikvideo eingespielt: Schlagersänger Oliver Haidt stakst an einem Biergarten vorbei durch die Landschaft und singt, er denke an Rhodos.

Die Glückwunsch-Antenne ist MTV für Senioren. Sie wünschen, wir spielen. Und zwar Operette, Fernsehballett und zu Recht vergessene Schlager. Wer einen Ü-60-Brandenburger in dieser Sendung grüßt, liegt auf jeden Fall richtig. Wer es sich mit einem jungen Menschen verderben will, der sollte dasselbe tun. ALEXANDER KÜHN