lidokino
: Eine wabbelige Männerwelt aus Sex und Sperma, Schweiß und Schweinefleisch

Großartiges Arsenal kreativer Schimpfwörter

Dass die italienische Kinobranche den neuen Berlinale-Chef Dieter Kosslick während der Filmbiennale mit einem Empfang ehrt, mag festivalpolitisch einmalig sein, gehört aber für Journalisten eher zum Pflichtprogramm, bei dem man mal eben vorbeischaut. Kosslick, die Berliner Filmmarktchefin Beki Probst und ihre italienischen Verbindungsleute wirkten im sogenannten Cinecittà-Pavillon so fröhlich und gelöst wie bei ihrer eigenen Abi-Abschlussparty. Als dann zu guter Letzt noch Forumsleiter Ulrich Gregor zum Mikro griff und vom new spirit und der new friendliness in Berlin sprach, schienen alle kurz davor, sich an den Händen zu nehmen und ein protestantisches Dankeslied zu singen. Zwischendurch stellte Kosslick dann noch Jack Valenti, den Chef des amerikanischen Produzentenverbandes vor, wobei, ganz antiamerikanischer Gotteswink, genau in diesem Augenblick ein Teil der Deko zusammenkrachte.

Tatsächlich ist das Festival unter Alberto Barbera längst nicht mehr die Hollywoodherbstschau, zu der es sich irgendwann entwickelt hatte. Zwar wird wegen Nicole Kidman hier und da ein Sträßchen abgesperrt, aber die Stars machen sich rar, was auch allem an den Titelzeilen der italienischen Boulevardblätter zu merken ist, die seit Tagen in einem Endlosloop aus Nicole, Tom und Penelope („Die andere!“) stecken. Vielleicht hätte sich in diesem Jahr sogar der rummelfeindliche Woody Allen am Lido wohlgefühlt, der seinen neuen Film mal wieder alleine nach Venedig geschickt hat. In „The Curse of the Jade Scorpion“, einer Screwball Comedy im Stil der 30er-Jahre, spielt er einen Versicherungsdetektiv, der unter Hypnose zum Juwelendieb mutiert. Es ist einer dieser nett-nostalgischen Woodies, die unterhaltsam dahinplätschern und keine großen Spuren hinterlassen – außer einem großartigen Arsenal kreativer Schimpfwörter, die sich Allen und seine Bürokonkurrentin Helen Hunt zwei Stunden lang an den Kopf donnern: schleimiges kleines Wiesel, unterbemittelte Kakerlake, männerfeindliche Gestapo-Schlampe, nasetriefender Eingeweideschnüffler etc. etc.

Ohnehin gab es auf diesem Festival bisher einen auffälligen Hang zur verbalen und körperlichen Drastik. Statt die Welt vorsichtig in Metaphern zu packen oder aus der diskreten Totale zu beobachten, nennt man die Dinge beim Namen (Allen), fährt den Frauen zwischen die Beine (Larry Clark), folgt den Kugeln in den menschlichen Körper hinein (Milcho Manchevski) oder geht, wie Fruit Chan in seinem neuen Film, Menschen und Schweinen gleichermaßen unter die Haut. Schon in den ersten Minuten von „Hollywood, Hongkong“ wird der Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Gewebe aufgehoben, verschmelzen die Speckschwarten einer Schweinerösterfamilie mit den verarbeiteten Fleischmassen. Chans Film spielt in einem Wellblechslum im Schatten von Hongkongs Appartmentwolkenkratzern, einer wabbeligen Männerwelt aus Sex und Sperma, Schweiß und Schweinefleisch. Eine junge Prostituierte erpresst die Männer des Viertels mit angeblichen unehelichen Kindern, was die Schweißproduktion noch verstärkt, zu Totschlag und mehreren abgehackten Händen führt. Chans Film, in dem sich Menschen und Schweine gegenseitig und untereinander aufessen, ist eine filmische Fortschreibung der BSE-Krise und der Gentechdebatten, eine schwarze Komödie über die produktionstechnische Beherrschung des Körpermaterials. Für die Zukunft der Zellteilung ist in „Hollywood Hongkong“ eine quacksalberische durchgeknallte Ärztin zuständig. Und plötzlich scheint es gar nicht so unwahrscheinlich, dass der erste künstliche Mensch in einem Hongkonger Schweinestall entstehen wird, in die Welt geworfen von einer tätowierten Muttersau namens Mamma. KATJA NICODEMUS