Kippeln erwünscht

Die Berliner Designer „e27“ verfremden bereits Existierendes zu neuen Gebrauchsobjekten. Stühle werden auf Kufen gestellt und knuffige Sitzsäcke mittels Vakuumtechnik dem Körper angepasst

von MICHAEL KASISKE

In der Fabriketage des Designerteams „e27“ herrscht betriebsame Arbeitsatmosphäre: Auf großen Bildschirmen laufen Animationen, die kleinen Powerbooks melden mit klingendem Ton die Ankunft neuer Mails, mutmaßliche Gestalter wippen auf Stehhockern. Auf dem großen Tisch stehen noch die Reste des gemeinsamen Mittagessens. Ein Büro? Ein Studio? Ein Atelier?

Die drei Gesellschafter Fax Quintus, Tim Brauns und Hendrik Gackstatter würden ihre Arbeitsstätte wahrscheinlich als „Labor“ bezeichnen. Ihr Selbstverständnis als diskursive Designer liegt den so genannten re-produkten zugrunde: „re-frame“, „re-form“, „re-tire“ werden die Entwürfe genannt, in denen e27 bereits Existierendes zu neuen Gebrauchsobjekten synthetisiert. Seit 1993 steht das Team für hochentwickeltes Design, das sich bestehendes Wissen und vorhandene Ressourcen zunutze macht, anstatt angestrengt nur nach den jüngsten Materialien zu schielen.

Dass diese Vorgehensweise weder altmodische noch biedere Produkte hervorbringt, zeigt das Beschilderungssystem „re-frame“. Was in der Hand zunächst als profane CD-Hülle erscheint, wird in ein an der Wand befestigtes Metallgehäuse arretiert zum preiswerten und flexiblen Informationsträger. Das passende Schriftfeld wird als Datei dem Nutzer übergeben, der es je nach Bedarf am Computer modifizieren, ausdrucken und mit einem Handgriff auswechseln kann.

Das Orientierungssystem wurde für ein Krankenhaus entwickelt. Gerade etwa bei der häufig wechselnden Belegung der Zimmer können so gestalterisch befriedigende Schilder ohne großen Aufwand angefertigt werden. Das Projekt hatte noch eine partizipatorische Komponente: Um dem deutschen Schilderwald von vorneherein Einhalt zu gebieten, entfernte e27 in Absprache mit dem Träger alle vorhandenen Schilder. Nach einigen Tagen zeigten vom Personal angebrachte Handzettel mit Informationen wie „Röntgen 2. OG rechts“, welche Wegweisungen wirklich essenziell sind.

Anpassung ist auch im Möbel „re-form“ enthalten. Ursprünglich wurde der überdimensionale Sitzsack für den Cebit-Stand der Deutschen Telekom entwickelt, die eine amorphe Sitzlandschaft à la Verner Panton wünschte. Dem Verlangen nach Innovation entsprach e27 durch die Vakuumtechnik: Wenn es sich der Sitzende bequem gemacht hat, wird die Luft abgesaugt und der vorher so knuffige Sack hält exakt den Körperabdruck. Die Füllung besteht aus kleinen Kugeln, die Haut aus strapazierfähigem Gummi.

Das Verfahren des Absaugens, um genaue Passformen zu erhalten, ist in der Orthopädie geläufig. Von Tim Brauns, der vor seinem Designstudium Orthopädie-Mechaniker gelernt hat, stammt auch der Anstoß zur „rollthese“. Durch diese Beinprothese, die anstelle eines Fußes mit Inlineskaterrollen ausgestattet ist, stellt e27 dem Changieren zwischen Neugier und Mitleid, Scham und Angst das gestaltete Objekt entgegen, welches das fehlende Gliedmaß weder funktional noch visuell nachahmen will. Vielmehr kehren die Designer den Spieß um und geben den Beinamputierten eine zusätzliche Fertigkeit, die dem Original unmöglich ist. „Freiräume nutzen“ charakterisiert e27 das Aufspüren noch unentdeckter Möglichkeiten. Diese Haltung ist auch Folge ihrer Ausbildung bei Hans „Nick“ Roericht an der Hochschule der Künste Berlin (siehe Interview taz thema wohnkonzepte vom 5. 5. 01).

Roericht legte den Designstudenten nahe, die Aufgabenstellungen zu hinterfragen, die Handlungsfelder aufzudecken, die Zielgruppe zu erkunden und andere Fachdisziplinen einzubeziehen. Was langwierig tönt, sind meist kurze Prozesse; so dauerte die Entwicklung der beiden Prothesentypen in Zusammenarbeit mit dem Probanden und den Orthopädie-Mechanikern des Oskar-Helene-Heims lediglich drei Wochen.

Die Produkte von e27, auch ihre Grafik- und Webdesigns, wenden sich an den selbstbewussten Verbraucher, der nicht seine Umwelt dekorieren will, sondern die Dinge als Teil seines Alltags benutzt. Auch die jüngste e27-Entwicklung, der „re-tire“ und sein Anhängsel „re-babe“ gehören in diese Kategorie.

„Warum das Kippeln verbieten, wenn das Schaukeln erlaubt ist?“, meint Fax Quintus und deutet auf den Schaukelstuhl, an den bei Bedarf eine Kinderwiege mit Lederbändern geknüpft werden kann. Der ursprüngliche Stuhl war ein Fundstück, der für „re-tire“ auf Kufen gestellt wurde. Die eigentlich lapidare Form entwickelte sich im Verlauf einiger Gestaltstudien zu einem edel wirkenden Schaukelstuhl. Das Gestell kann wahlweise vernickelt, aus Edelstahl oder mit einer Pulverbeschichtung in Karminrot geliefert werden, die Sitzfläche besteht aus Binsengeflecht in Naturfarben oder Dunkelbraun; demnächst werden Extensionen wie eine Zeitungstasche und eine Stillablage erhältlich sein.

Da der Stuhl stapelbar ist, regt e27 den öffentlichen Einsatz an. Würde Politiker wie etwa Angela Merkel im Bundestag nicht mehr mit ihrem Stuhl hin und her rollen, sondern – je nach Nervenanspannung – langsamer oder heftiger schaukeln, die Debatten würden eine körperliche Belebung erfahren. Doch werden sich Politiker wohl nie so harmonisch im Einklang bewegen können wie die Mutter und ihr Kind. Unabhängig von der Frage, wer ob der wiegenden Bewegung schneller eingeschlafen ist – der „re-tire“ ist für e27 Teil einer „neuen Gemütlichkeit“. Diese, so erläutert Quintus, ist der geläufigen Küchenatmosphäre ähnlich: Dort kann man sich fallen lassen, dort bleibt man visuell unbelästigt. Allerdings lassen die Objekte von e27 das Auge zumindest nicht müde werden.

Alle Produkte erhältlich über www.e27.com