Prost Schultheiss

Eine Metropole im täglichen Taumel zwischen Euphorie und Ernüchterung: Das neue „Merian Berlin“ ist da und kündet von einer Stadt, die sich schon wieder erfunden hat

Mit dem neuen Merian-Heft „Berlin“ ist es wie mit den Berliner Stadtzeitungen: Was, schon wieder zwei Wochen um? Schon wieder ein neues Merian über Berlin? Hatten wir das nicht gerade erst? Nein, hatten wir nicht. Drei Jahre sind ins Land gegangen, wie uns das Editorial des neuen Heftes verrät, und es ist auch dieses Mal wieder „alles ganz anders“. Denn, ganz aktuell: „Die Stadt hat sich neu erfunden.“ Ja, „sie hat sich binnen weniger Jahre runderneuert im täglichen Taumel zwischen Euphorie und Ernüchterung – mal Weltstadt, mal Provinz.“

Das haben wir zwar mehrmals schon in ähnlicher Form in anderen Publikationen gelesen, doch egal: Beim ersten Blättern bekommt man gerade als langjähriger Bewohner dieser Stadt durchaus einen Eindruck von der Schönheit und Größe und Interessantheit der Stadt. Registriert man ja sonst alles gar nicht, wenn man so seiner Wege geht von der Wohnung zur Arbeit in die Stammkneipe und wieder zurück: Potsdamer Platz, Esplanade, Tiergarten, Berliner Dom, Lustgarten. Große, hübsche Fotos davon trailern den ersten längeren Text an, der aus der Feder des Spiegel-Redakteurs Reinhard Mohr stammt. Mohr spürt schon als Neuberliner einen erhöhten Pulsschlag, wenn er nach ein paar Tagen Abwesenheit mit dem ICE wieder in Berlin einfährt. Anstatt sich diesem Phänomen (das eigentlich vor allem Alteingesessenen zu Eigen ist!) einigermaßen selbstironisch zu nähern, verliert sich Mohr dann aber lieber in einer Schwärmerei sondergleichen. Es treten auf: der Flaneur, Alfred Döblin, der Moloch, das Provinzkaff, Franz Hessel, die neue Urbanität usw. und so bekannt. Solcherart eingestimmt drängt sich beim weiteren Lesen die Erkenntnis auf, dass sich in Berlin doch nicht so viel getan hat: Die Russen in Berlin („wie in den Zwanzigerjahren strömen sie in die Stadt“), der ewig neueste „Szenebezirk“ Friedrichshain, Else Buschheuers Ku’damm (ja, der alte Westen lässt sich nicht unterkriegen), die Berliner Literaturszene („vor allem der Prenzlauer Berg gilt als neues literarisches Hauptquartier der Stadt“), der Mittelpunkt Europas („Ein Land rückt nach Osten“), die jungen Wilden (Cookies!) und immer wieder die neuen Bauten, das Regierungsviertel, Mitte und Mitte.

Berlin ist für Merian eine Stadt, die aus Mitte und ein paar interessanten Anrainerbezirken besteht. Sie ist endlich die Metropole, die Berliner Lokalpolitiker seit fünfzig Jahren in ihr sehen, sie ist „vergnügter geworden, genießerischer, internationaler“, eine Stadt „voller Geschichte, Energie und Reibung“, wie es die Architektin und junge Wilde Corinna Charis Schwarz sagt. Genau, und Merian bildet sie ab.

Dass die Metropole natürlich immer auch Provinzkaff ist, wird zwar gern behauptet, doch Texte und Bilder sprechen eine andere Sprache: Berlin darf einfach nicht Marzahn, Reinickendorf, Neukölln oder Köpenick sein, das provinzielle Berlin spiegelt sich auch nur an den Orten, wo der Glamour ist. Da seien die Lebenswelten der rund 30 Autoren und Fotografen vor, da sei die Konzeption eines solchen Magazins vor, das auf 232 Seiten Hochglanzpapier puren Hochglanz verbreiten muss. Berlin ein Fest fürs Leben, Berlin-Mitte ein Ort, den jeder Weltbürger mindestens einmal im Leben gesehen haben muss. Darauf eine Flasche Schultheiss. GERRIT BARTELS