„Wegen Schily abtreten? Ach wo!“

„Damals dachte der Westen: Sollen die ihr Stasigesetz haben. Jetzt merkt man: Das betrifft auch uns“

von WOLFGANG GAST
, RALF GEISSLER
und HEIKO HÄNSEL

taz: Frau Birthler, können Sie sich vorstellen, dass Gregor Gysi Regierender Bürgermeister von Berlin wird?

Marianne Birthler: Na, zum Glück brauch’ ich mir das nicht vorzustellen. Es ist ja sehr unwahrscheinlich.

Zu einer Regierungsbeteiligung der PDS kann es jedenfalls kommen. Können Sie sich mit einer solchen Vertretung ostdeutscher Interessen auch nicht anfreunden?

Nein. Mehr als 80 Prozent der Ostdeutschen wählen die PDS nicht. Die Behauptung, mit der Regierungsbeteiligung der PDS sei ein Beitrag zur deutschen Einheit geleistet, ist absurd – und eine Beleidigung für viele Ostdeutsche.

Aber viele Ostdeutsche haben mit der PDS kein Problem.

Das ist auch wahr.

Warum wäre eine Regierungsbeteiligung dann absurd?

Im Osten gibt es nicht nur lauter frische, tatkräftige PDS-Mitglieder, wie es die Partei in diversen Talkshows suggerieren will. Sondern viele alte Kader. Die empfinden die letzten zwölf Jahre als Skandal, weil man sie so lange von der Macht fern gehalten hat.

Die PDS behauptet, die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten.

Da tut sie nicht. Allerdings: Sie ist die einzige Partei, die kulturell dem Osten verbunden ist. In allen anderen Parteien fühlen sich Ostdeutsche nicht zu Hause, weil dort Westdeutsche dominieren. Das ist weniger eine politische, sondern mehr eine kulturelle Frage: Bei wem fühle ich mich zu Hause und wer nimmt mich ernst? Das sind meiner Meinung nach die Gründe für die relativen Erfolge der Partei. Ideologisch ist die Partei wie eine Tüte Haribo. Da ist für jeden etwas drin. Die Tüte darum herum ist das Ost-Feeling.

Sie waren von Mai 1993 bis Dezember 1994 Bundessprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. Was müsste die Partei tun, um der PDS Wähler abzunehmen?

Die Frage unterstellt: Die PDS ist erfolgreicher als die Grünen, also müssen diese so arbeiten wie sie. Das halte ich für keinen Erfolg versprechenden Weg. Mit Blick auf den Osten ist entscheidend: Wer steht mittelfristig für Liberalität, Aufgeschlossenheit und Modernität? Dafür gibt es gegenwärtig zwar nur ein schmales Wählersegment. Ein entsprechendes Milieu, ein aufgeklärter Mittelstand, wird aber entstehen. Dann müssen die Bündnisgrünen da sein.

Ärgert es Sie, dass die Grünen in Berlin der PDS in den Sattel helfen?

Es hat mich nicht besonders überrascht. Der letzte Beschluss gegen eine Kooperation mit der PDS hatte nur noch eine knappe Mehrheit. Mich ärgert aber das Argument, man dürfe die PDS nicht ausgrenzen. Im Osten ist die PDS in allen wichtigen Organisationen sehr viel stärker vertreten als jede andere Partei. Und schauen Sie sich an, in wie vielen Rathäusern die PDS bereits regiert.

Mein Punkt ist: Ich will unser Gemeinwesen nicht durch stasibelastete Personen repräsentiert sehen. Aber auch wenn die Repräsentanten der PDS unbelastet wären: Wenn sie an der Regierung sind, hat das Folgen wie beispielsweise den unmittelbaren Zugang zu Jobs, zur Verwaltung, zu Fördertöpfen. Das ist die kleine, harte Münze der Macht im Alltag. Dieser gewisse Grundton „Wir sind wieder wer“ – den höre ich schon jetzt viel zu oft heraus.

Die Konsequenz, die Grünen zu verlassen, ziehen Sie dennoch nicht?

Meine Parteimitgliedschaft ruht aufgrund meiner jetzigen Funktion. Und was ruht, tut gar nichts.

Wie ist Ihr gegenwärtiges Verhältnis zu Innenminister Otto Schily?

Wir schreiben uns. Für Ende August ist ein Gespräch vereinbart. In seinem letzten Brief hat er mich nochmals aufgefordert, keine Akten von Prominenten herauszugeben. Anderenfalls werde die Bundesregierung ihre Rechtsaufsicht ausüben.

Was passiert, wenn sich Schily im Bundeskabinett durchsetzt?

Ich fände es sehr bedauerlich, wenn gerade eine rot-grüne Bundesregierung den Aktenzugang einschränken würde. Immerhin sind diese beiden Parteien die einzigen politischen Kräfte im Osten, die aus der Bürgerbewegung hervorgegangen sind und nichts mit den ehemals Mächtigen zu schaffen haben.

Die Debatte um die Herausgabe von Akten so genannter Personen der Zeitgeschichte ist bereits geführt worden, als vor zehn Jahren das Gesetz über die Stasiunterlagen erlassen wurde. Können Sie sich erklären, warum sie sich jetzt wiederholt?

Ich darf daran erinnern, dass dieses Gesetz von uns Bürgerrechtlern in der Abschlussphase des Einigungsvertrags regelrecht ertrotzt worden ist. Damals haben die Westdeutschen gedacht: Eigentlich ist uns das alles fremd, aber sollen die Ostdeutschen das Gesetz haben, wenn sie es brauchen. Jetzt merkt man: Das hat doch alles mit uns zu tun. Der Geheimdienst hat tief in die westdeutsche Elite hinein gewirkt. Das Erschrecken darüber kann ich verstehen, aber nicht die Abwehrhaltung gegen die Aufklärung.

In den letzten Jahren sind häufiger Akteninhalte auch über Prominente in die Öffentlichkeit getragen worden. Warum musste erst ein Exbundeskanzler kommen, um sich dagegen zu wehren?

Meine Behörde hat nie einen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen gemacht. Insofern ist das Argument nicht richtig, erst würden die Ostdeutschen terrorisiert und wo es nun um Westdeutsche geht, werde gänzlich anders verfahren. Richtig ist: Die Ostdeutschen haben das Gesetz angenommen. Das zeigen die fast 1,8 Millionen Akteneinsichten. Wenn heute versucht wird, einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung zu ziehen, dann gibt es bereits eine öffentliche Gegenbewegung.

Sie haben den Bundestag aufgefordert, den Streit durch eine Klarstellung im Gesetz zu beenden. Gehen Sie damit nicht das Risko ein, dass sich die Mehrheit im Parlament für Schilys Position entscheiden könnte?

Folgt man der Interpretation des Berliner Verwaltungsgerichts, das die Herausgabe der Kohl-Akten untersagt hat – dann hätte der Bundestag eine Geisterdebatte geführt, als er vor zehn Jahren über das Gesetz debattierte. Dann hätte die Behörde wie auch die Öffentlichkeit ein so bedeutendes Gesetz zehn Jahre lang missverstanden. Also bedarf es einer Klarstellung. Freilich: Wenn Sie den Sack aufschnüren, wissen Sie nie genau, was alles passieren kann. Aber ich will mein Amt auf dem Boden des Gesetzes ausüben. Und wenn der Wille des Gesetzgebers unklar ist, ist das schwierig.

Würden Sie vom Amt der Bundesbeauftragten zurücktreten, wenn sich die Auffassung des Berliner Verwaltungsgerichts durchsetzt?

Ach wo! Es ist weniger die Arbeit meiner Behörde, die durch das Urteil besonders beeinträchtigt wird. Der größte Teil unserer Arbeit wird von dem Urteil nicht berührt: die persönliche Akteneinsicht oder die Archivarbeit. Berührt wären vor allem die Rechte von Wissenschaft und Medien.

Können nicht weitere Prominente klagen und sich dabei auf das Urteil im Fall Kohl berufen?

Theoretisch ja, aber das geschieht gegenwärtig nicht. Womit ich rechne, sind Klagen ehemaliger DDR-Funktionsträger. Wenn die sich erst einmal sicher sind, werden sie klagen. Was die Prominenten betrifft: Sehr viele, wenn nicht gar die meisten interessanten Vorgänge sind der Öffentlichkeit schon seit Jahren bekannt. Das von meiner Behörde seit April praktizierte Benachrichtigungsverfahren wird zudem sehr positiv aufgenommen.

„Die PDS ist wie eine Packung Haribo. Da ist für jeden etwas drin. Und die Tüte ist das Ost-Feeling“

Sie bekommen nicht nur Post von Herrn Schily, sondern auch aus Amerika. Zur Zeit werden Teile der so genannten Rosenholz-Datei zurückgegeben – eine Kartei der DDR-Auslandsspionage, die auf ungeklärten Wegen aus Ostberlin in die USA gelangt ist. Erwarten Sie aufgrund dieser Unterlagen neue Enttarnungen von Stasiagenten im Westen?

Kaum, denn die Ermittlungsbehörden der Bundesrepublik konnten bereits vor Jahren in das Material Einsicht nehmen. Damals wurden Hunderte von Ermittlungsverfahren eingeleitet, es gab auch Verurteilungen. Hier und da kann heute sicher noch ein Fall auftauchen. Aber das wird die Ausnahme sein. Man muss auch sagen, wie begrenzt die Aussagekraft dieser Daten ist. Es handelt sich dabei nicht um Akten, sondern nur um Bilddateien von Karteikarten.

Dürfen diese Unterlagen den Forschern zur Verfügung gestellt werden?

Nein, es handelt sich bei Karteikarten um Findmittel, die auch sonst nicht herausgegeben werden. Wir können mit ihrer Hilfe Unterlagen besser einordnen oder Klarnamen identifizieren.

Es handelt sich um CDs mit Fotografien der Karteikarten. Sind Sie sicher, dass der amerikanische Geheimdienst die Rosenholz-Dateien nicht manipuliert hat?

Wir haben jedenfalls keinen einzigen Anhaltspunkt für Unregelmäßigkeiten. Natürlich können wir nicht ausschließen, dass Datensätze fehlen.

Wann wird die Übergabe dieser Dateien abgeschlossen sein?

Ende 2002.

Wie sehr bergen die Rosenholz-Dateien die Gefahr von falschen Deutungen – wie im Fall von Björn Engholm, der im vorigen Dezember als Stasispitzel verdächtigt wurde?

Man muss wissen, dass die Registrierung von Personen bei der Auslandsspionage nach anderen Spielregeln erfolgte als bei den anderen Abteilungen der Stasi. Wenn Sie die dortigen Karteikarten sehen, gibt es zu einem Klarnamen jeweils einen Decknamen. Die für das Ausland zuständige „Hauptverwaltung Aufklärung“ hat unter einem einzigen Decknamen ganze Vorgänge geführt. Das heißt, unter einem Decknamen wurden zehn, zwanzig oder dreißig Leute erfasst. Davon ist sehr wahrscheinlich nur einer der Spion.

Nicht wenige wollen Ihre Behörde am liebsten sofort dichtmachen. Wann kommt nach Ihrem Ermessen die Zeit, die Behörde für die Stasiunterlagen zu schließen?

Das ist nicht abzusehen. Mit Ausnahme des Arbeitsgebietes der Überprüfungen, das laut Gesetz bis 2006 abgeschlossen werden muss. Ich habe den Eindruck, dass bei keinem anderen Feld das Interesse nachlässt. Wir bekommen immer noch monatlich 10.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht. Bei Anträgen der Wissenschaft und Medien haben wir sogar einen leichten Anstieg. Auch ein Ende der Archivarbeit ist nicht in Sicht.