Den Schmerz ernst nehmen

Die Große Weltgeschichte der Pein. Zu Besuch bei einer Doloro-Forscherin

Es ist eine ziemlich miese Gegend. Ich beuge mich nach vorn übers Lenkrad und versuche das graffitiverschmierte Straßenschild zu entziffern. Zwei Jugendliche sehen mich feindselig an, wärmen ihre Hände an einer brennenden Mülltonne. Und das mitten im Hochsommer. Hier also wohnt die Frau, mit der ich mich heute Abend treffen will, um etwas mehr über die Geschichte der Schmerzen zu erfahren: Dr. Christa Hartmann, seit einem halben Jahrzehnt Leiterin des Fachbereichs Neuere Geschichte am Max-Halbe-Institut für angewandte Doloro-Forschung. Seit eben dieser Zeit arbeitet sie an ihrer auf neun Bände projektierten „Großen Weltgeschichte der Pein“, dem „Brockhaus des Schmerzes“.

Als sie mich an der Wohnungstür begrüßt und mich hineinbittet, gibt sie mir ihre Linke, die andere Hand ist dick einbandagiert. Sie habe sich gestern beim Zwiebelschneiden in den Finger gesäbelt, sagt sie mit schuldbewusstem Lächeln. Ich sehe mir daraufhin noch einmal die Bandage an. Offensichtlich benutzt sie sehr große Messer. Vor ihrem Arbeitszimmer stößt sie plötzlich zwischen zusammengepressten Zähnen eine zischende Warnung hervor. „Seien Sie vorsichtig, hier ist alles voller Reißzwecken.“ Frau Dr. Hartmann ist mitten hindurchgegangen. Und in dem Moment bemerke ich, dass sie barfuß läuft.

Der mit Bücherregalen und merkwürdigen Gerätschaften, deren Funktion mir nicht gleich einleuchtet, voll gestellte Raum macht einen sauberen, ordentlichen Eindruck. Wie setzen uns in die Polsterkombination, und ich beginne nun langsam mich zum Thema vorzutasten.

Sie habe eine Dissertation über das ausgeklügelte Terrorsystem der Jakobiner zur Zeit der Französischen Revolution geschrieben, erzählt sie, aber das sei ihr später dann doch zu theoretisch gewesen. „Ach, die vielen Namen, dieser hatte das gesagt, jener dies getan, man stieg da ja gar nicht mehr richtig durch.“ Vor allem aber habe ihr der unmittelbar sinnliche Aspekt an der Geschichte gefehlt. „Darüber schweigen die Quellen sich nämlich meistens aus. Da steht dann nur ‚Tod durch den Strang‘ oder ‚Guillotine‘ oder ‚Rad‘, aber wie genau das vor sich ging, und vor allem was die Menschen dabei fühlten“, sie schüttelt indigniert den Kopf: „Fehlanzeige!“

Aber woher kommt ihr persönliches Interesse an diesen Dingen? Sie beugt ihren Kopf zu mir herüber, spricht nun leise, aber bestimmt. „Wenn man einen anständigen Schmerz spürt“, sie schlägt zweimal fest mit der gesunden Faust in die weiße Mullhand und lächelt nun mit ganz rosigen Wangen, „weiß man doch noch am ehesten, dass man lebt, oder?“ Da ich mir in diesem Punkt nicht so sicher bin, frage ich schnell, was sie von psychosomatischen Schmerzen oder von Hypochondrie hält. „Man muss den Schmerz ernst nehmen“, erklärt sie, „ihn wie einen guten Freund behandeln, mit Aufmerksamkeit und Geduld, dann wird er einen nie im Stich lassen.“ Aber dann verfinstert sich ihr Gesicht. „Wofür ich allerdings überhaupt kein Verständnis habe, das ist dieser ganze modische Heuschnupfen- und Neurodermitis-Kokolores. Wenn Sie mich fragen, eine einzige Anstellerei, weiter nichts. Die Menschen haben einfach Langeweile. Gebt ihnen einen Besen oder einen Spaten, ein bisschen körperliche Arbeit, und es hat sich was mit ihren Allergien . . .“

Nach gut zweieinhalb Stunden, in denen sie sehr eindrücklich schildert, was es mit den vielen herumstehenden Werkzeugen auf sich hat, gehen mir langsam die Fragen aus, und so mache ich nun Anstalten, mich zu verabschieden. „Warten Sie, ich möchte Ihnen noch ein kleines Andenken mitgeben.“ Sie eilt aus dem Raum und holt eine mit schwarzem Samt bespannte Schachtel, darin befindet sich eine Taschen-Guillotine aus Gusseisen. Sie deutet auf die kleine Halterungsmanschette unter der scharfen Klinge. „Sehen Sie, und da kann man den Finger hineinstecken.“ Zunächst will ich das großzügige Geschenk ablehnen, es sei doch viel zu wertvoll, aber sie besteht darauf. Ich müsse es annehmen. Und bevor sie die Wohnungstür endgültig verschließt, zwinkert sie mir zum Abschied noch einmal spitzbübisch zu, so als hätten wir beide jetzt ein kleines Geheimnis. FRANK SCHÄFER