Wege der Männlichkeit

Neu konstruiert: Walter Erharts Studie „Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit“

Männlichkeit wurde ja schon einiges und auch wenig Schmeichelhaftes nachgesagt. Dass sie literarisch sei, ist indessen neu und zunächst auch irritierend. Vertreten wird diese bahnbrechende These von Walter Erhart, der in seiner Studie „Familienmänner“ den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit zu rekonstruieren unternimmt. Gemeint ist nicht nur, dass Männlichkeit den Gegenstand fiktionaler Texte bildet, sondern auch dass die männliche Geschlechtsidentität selbst wie eine Erzählung konstruiert ist. Um Simone de Beauvoir zu variieren: Mann wird nicht als Mann geboren, er muss sich dazu machen.

Kein leichtes Unterfangen, wie die Studie verdeutlicht. Die verschlungenen Pfade, die Gefährdungen, die Etappensiege, das Scheitern und die Neuentwürfe, die mann auf dem Weg zum „ersten Geschlecht“ hinter sich bringt, bilden den verborgenen Dark Continent der Männlichkeit. Um diesen zu beleuchten, setzt die Studie dort an, wo der Mann gemeinhin als Fehlanzeige gilt – also in der Familie. Es ist dieser private, intime Raum, in dem aus Söhnen Männer und unter Umständen Väter werden.

Historisch und kulturell variantenreicher als die Engführung auf Groß- und Kleinfamilie vermuten lässt, ist auch „die Familie“ selbst mehr als „nur“ eine soziologisch definierbare Einheit. Sie ist immer auch, was schon Freud in ihr sah: ein Narrativ, eine Erzählung – eben ein „Familienroman“. Nicht nur der ganz normale Neurotiker formt sich seine eigene Familiengeschichte aus Fantasie und „Realität“, auch Literatur, Wissenschaft, Psychologie und Medizin stellen ebensolche in großem Maßstab als „kulturelles Wissen“ bereit. Ob es in diesen Texten nun um moderne Nervosität, Ehebruch oder die Menschenheitsgeschichte geht, sie verdeutlichen immer auch, wie der Sohn zum Mann wird – oder werden soll.

Das 19. und 20. Jahrhundert produzieren und kommunizieren ihr kulturelles Wissen über Männlichkeit allerdings eher undercover, also als Subtext. So verfasst der Baseler Altphilologe Bachofen 1861 mit seiner Studie „Das Mutterrecht“ mitnichten nur eine geschichtsphilosophische Spekulation über die Abfolge von Matriarchat und Patriarchat, sondern auch den „Ursprungstext über moderne männliche Identität“: Mit der Ablösung von der Mutter muss jeder Mann wiederholen, was die Menschheitsgeschichte schon vollzogen hat. Ein Grundmuster, das die europäischen Romane immer erneut variieren: Weiblichkeit wird als unwandelbare Natur und damit als maternaler Raum verstanden, demgegenüber der Mann – „das vom Stofflichen fliehende Geistige“ (Bachofen) – Zeit und Geschichte repräsentiert. Männlichkeit vollzieht sich als rite de passage zwischen maternaler Topografie und paternaler Erzählung. In dieser Bewegung verbinden sich die seit dem 18. Jahrhundert anscheinend nach Geschlechtern getrennten Sphären des Privaten und der Öffentlichkeit. Die Geschlechtsidentität des Mannes ist solchermaßen narrativ, das heißt als „Ensemble von Geschichten“ konstruiert und in diesem Sinne literarisch.

Wie und um welchen Preis diese Geschichten gelingen, davon erzählen die gründerzeitlichen Romane Fontanes, Raabes oder auch Freytags. Stolze Reichsgründer gleich glückliche Familiengründer? Weit gefehlt. Die Helden sind nicht mehr qua Geburt in eine gesicherte Genealogie gestellt, und so geraten die bürgerlichen Familiengründungen zu Fallbeispielen problematischer Männlichkeit. Am Ende des 19. Jahrhunderts droht dem nervösen Zeitalter die paternale Erzählung der Männlichkeit mangels Vaterfigur endgültig fehlzuschlagen – Heinrich Mann sinniert bereits über den „geistigen Niedergang der Männer“ – da springt die Psychoanalyse ein. Freud richtet mit dem ödipalen Drama noch einmal den Vater als machtvolle, zentrale Instanz ein und bringt die Familiengeschichte neu in Gang. Lacan wird die ganze Sache später wasserdicht machen und den symbolischen Vater zum Gesetz erheben. Die Psychoanalyse schließt an Bachofens Konstruktion insofern an, als sie ein neues Erzählmodell zur Männlichkeit bietet. Denn am Fin de siècle droht deutlich auch das Fin de familles und mit ihr das Ende der Männlichkeit. Nietzsche, Freud, Simmel, Möbius sind nur die bekanntesten Namen all der Kulturtheoriker und Philosophen, der Mediziner und Vererbungsforscher, der Soziologen und Psychologen, die unisono „Degeneration“, „männliche Willensschwäche“ und „Neurasthenie“ diagnostizieren. Thomas Mann setzt mit den Buddenbrocks 1901 dem „ ,Verfall‘ einer Familie, in der die Väter untergehen und die Söhne nicht mehr zu Männern werden“, dann ein epochales literarisches Denkmal. Es mehren sich die Geschichten von verlorenen Söhnen und expressionistischen Vatermördern, die immer weniger die familiale Laufbahn einschlagen wollen. Die Söhne gehen den Familien verloren, die Väter kommen den Söhnen abhanden und zu alledem sehen sich die von Modernisierungseffekten gebeutelten Männer und Väter einer durch die gleichen Effekte gestärkten Weiblichkeit gegenüber. Die Erzählungen der Moderne weisen dabei auf die Postmoderne voraus – sei es im Versuch der Söhne, den maternalen Raum zu besetzen oder den Familientext umzuschreiben und so neue Geschlechterbilder zu entwickeln. Tatsächlich hat das Erzählmodell Familie – erinnert sei hier nur an Brussigs „Helden wie wir“ – noch lange nicht ausgedient. Aus diskurstheoretischer Perspektive ist Männlichkeit eine komplexe kulturelle Erzählung, die jeder für sich nachbuchstabieren oder eben umschreiben muss. Men’s Studies – in den USA etabliert – sind hier zu Lande noch kaum angekommen. Erharts Studie macht deutlich, dass Männlichkeit als monolithischer Block des Schreckens auch wissenschaftlich ein Auslaufmodell ist. Ein brillant argumentierendes und in seiner raumgreifenden Perspektive außerordentlich beeindruckendes Buch, das nicht zuletzt durch das Entziffern der verdeckten Geschichte moderner Männlichkeit neue Erzählungen ermöglicht. ELKE BRÜNS

Walter Erhart: „Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit“. Wilhem Fink Verlag. 2001. 463 Seiten, 88 DM