Neues Rekordtief an Tokioter Börse

Niedrigster Stand seit 16 Jahren wirft Japans Finanzsektor in eine neue Krise. Auch aus anderen Sektoren viele schlechte Nachrichten: Handelsbilanz fällt, Konjunktur lahmt und der angebliche Reformpremier fährt nach einem Eklat in Urlaub

aus Tokio ANDRE KUNZ

Die traditionelle Ferienwoche für die O-Bon-Feste in Japan hat mit einer steilen Talfahrt der Tokioter Börse auf ein neues Rekordtief begonnen. Der Nikkei-Index verlor am Montag wiederum 2,2 Prozent und notierte auf 11.477,56 Zählern, dem tiefsten Stand seit Dezember 1984. Die Baisse findet vor allem im Technologiesektor statt, doch den größten Schaden erleidet der Finanzsektor.

Ministerpräsident Junichiro Koizumi schien der Kurssturz an der Börse wenig zu kümmern. Er pilgerte stattdessen zum umstrittenen Yasukuni-Militärschrein und löste eine diplomatische Krise mit den asiatischen Nachbarn aus – weil dort auch Generäle aus dem Zweiten Weltkrieg begraben liegen, die als Kriegsverbrecher eingestuft wurden. Koizumi fährt nun für zwei Wochen in die Ferien. Ökonomen sehen darin ein Besorgnis erregendes Signal, dass das selbst ernannte Reformkabinett von Koizumi bis zum September wenig unternehmen wird, um die zunehmend prekäre Lage der Konjunktur in Japan zu verbessern.

Die größte Gefahr droht dem Finanzsektor. Trotz Drängens des Internationalen Währungsfonds und kritischer Ökonomen schafften es die japanische Finanzaufsicht (FSA) und die Regierung noch nicht, konkrete Schritte zur ewigen Problematik der faulen Kredite im Bankensektor vorzustellen.

Der große Streitpunkt zwischen der FSA und unabhängigen Ökonomen bleibt das reale Ausmaß der Problemkredite. Hakuo Yanagisawa, der Chef der Finanzaufsicht, schätzt, dass die „riskanten Kredite“ in der Höhe von 151 Billionen Yen (2.690 Milliarden Mark) liegen. Echte „faule Kredite“ machten aber nur 24 Billionen Yen oder ein Sechstel davon aus. US-Wertpapierhäuser dagegen veranschlagen die riskanten Kredite fast doppelt so hoch auf 237 Billionen Yen und gehen davon aus, dass die Banken in den nächsten zwei Jahren „faule Kredite“ in Höhe von 170 Billionen Yen (3.200 Mrd. Mark) abschreiben müssen.

Das Hauptproblem ist dabei, dass gerade junge, aufstrebende Firmen derzeit kaum an Bankkredite herankommen und damit die Chance für viele Reformen geschmälert wird, die Koizumi vorsieht. Der negative Einfluss dieser Probleme auf den Finanzsektor wird noch verstärkt, weil derzeit von sämtlichen Fronten negative Nachrichten vermeldet werden. Die Saison für Vierteljahresabschlüsse ist gerade mit Hiobsbotschaften aus dem Elektronik- und High-Tech-Sektor abgeschlossen worden. Der weltweite Nachfrageeinbruch für Elektronikprodukte traf die japanischen Konzerne hart, und selbst so gesunde Unternehmen wie Sony meldeten dramatische Gewinneinbrüche.

Wie das Finanzministerium gestern mitteilte, schrumpfte der Überschuss im Warenhandel um 36,2 Prozent auf 4,2 Billionen Yen und damit zum fünften Mal in Folge. Während Japans Exporte um 1,2 Prozent auf 23,8 Billionen Yen zurückgingen, erhöhten sich die Einfuhren um 11,9 Prozent auf 19,6 Billionen Yen.

Soweit ist die Krise fortgeschritten, dass die Industrie ihre Kapitalinvestitionen um rund 30 bis 40 Prozent zurückfährt und damit der letzte noch funktionierende Motor für die Konjunktur ausfällt. Die Folgen sind bereits spürbar. Die Arbeitslosigkeit wird im Juli voraussichtlich einen historischen Rekord von fünf Prozent überschritten haben und weitere Stellenverluste sind programmiert.

In den vergangenen zehn Jahren war es zur Gewohnheit der japanischen Regierung geworden, in solch schwierigen Krisenzeiten mit der Ankündigung eines Nachtragshaushalts und der Stimulierung mittels öffentlicher Steuergelder die Stimmung aufzuhellen. Dieser traditionellen Wirtschaftspolitik hat Ministerpräsident Koizumi den Kampf angesagt, und die jüngsten Budgetvorschläge sehen eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben um 900 Milliarden Yen vor.

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