Die Sorge der Kojoten

El Chele schleust die Grenzgänger durch. Er kennt alle Beamten. Geld, Händedruck, noch ein paar Meter, und der Kunde ist im Gelobten Land

aus Peñas Blancas TONI KEPPELER

Je schlechter es den Nicaraguanern geht, desto besser geht es den Kojoten. Das war jahrelang fast so sicher wie ein Naturgesetz. Und weil es den Nicaraguanern schon ziemlich lange ziemlich schlecht geht, lebten die Kojoten lange gut. Kojote, das schien ein Beruf mit Zukunft zu sein. In Peñas Blancas, einer Grenzstation zwischen Nicaragua und Costa Rica, ernährt er 200 Menschen und ihre Familien.

Grenzen sind in Zentralamerika für diejenigen, die sie ganz legal überqueren wollen, echte Hindernisse. Für solche, die illegal auf die andere Seite wollen, sind sie dagegen relativ harmlos. Für beide Sorten des Grenzübertritts empfielt es sich, einen Kojoten unter Vertrag zu nehmen: Junge Männer und Frauen, die Grenzgänger auf die andere Seite bringen.

Der legale Grenzgänger, so er im Auto anreist, übergibt dem Kojoten Pass und Wagenpapiere. Der Kojote kümmert sich um den Rest: Bis zu sechs Stempel sind nötig, bevor der Grenzer den Schlagbaum hebt. Wer sich lieber selbst darum kümmern will, steht an sechs unterschiedlichen Schaltern sechs Mal Schlange. Die Schalter sind nicht etwa logisch hintereinander geordnet, sondern ohne erkennbare Systematik über die gesamte Grenzstation verstreut.

Ohne einen Kojoten kann ein Grenzübertritt leicht zwei Stunden dauern. Mit seiner Hilfe ist hingegen in einer halben Stunde alles erledigt. Denn der Kojote weiß nicht nur, wo die verschiedenen Schalter sind. Weil er schon über Jahre ein gutes Verhältnis zu den Grenzbeamten pflegt, steht er auch nicht Schlange. Für seine Dienste verlangt er umgerechnet fünf Mark Honorar. Ein Teil des Geldes geht an die Grenzer.

Für illegale Grenzgänger ist die Prozedur einfacher, schneller, aber auch etwas teurer. Illegale kreuzen die Grenze in aller Regel zu Fuß und ebenfalls in Begleitung eines Kojoten. Rund sieben Mark verlangt er dafür. Plus drei Mark für den nicaraguanischen Grenzbeamten. Kojote und Grenzbeamte schütteln sich kurz die Hand, dann wird das Eisengatter für Fußgänger geöffnet. Vor Costa Rica liegt nur noch die Brücke über den Sapoa-Fluss. An deren Ende steht der costaricanische Grenzer. Noch einmal drei Mark, noch ein Händedruck, und der Illegale ist im Gelobten Land.

Jahrelang lief das Geschäft

An manchen Tagen, sagen die Kojoten, funktioniert das nicht. Niemand kann erklären, warum. Aber plötzlich will der nicaraguanische Grenzbeamte keine Hände schütteln. Nichts geht. Das Eisengatter bleibt zu. Dann bleibt nur eine Möglichkeit. Man schlägt sich nach rechts ins Gelände, watet durch den allenfalls knietiefen Sapoa-Fluss, noch ein paar Meter durch hüfthohes Steppengras. Dann wartet die costaricanische Grenzwache. Die Männer sind immer freundlich. Nie haben sie den lohnenden Händedruck versagt.

Jahrelang ist das Geschäft der Kojoten sehr gut gelaufen, denn – wie gesagt – je schlechter es den Nicaraguanern geht, desto mehr suchen sich Arbeit in Costa Rica. An einem normalen Augusttag werden in Peñas Blancas 400 bis 500 Illegale über die Grenze geschleust.

Hochsaison ist kurz nach Weihnachten und kurz nach Ostern. Vielen illegale Nicaraguaner, die über die Feiertage ihre Familie zu Hause besucht haben, müssen zurück an den Arbeitsplatz. Dann kommen täglich zwischen 1.000 und 1.500 Grenzgänger nach Peñas Blancas. Jeder der Kojoten wickelt mindestens fünf illegale Grenzübertritte am Tag ab und noch einmal so viele legale. Das macht zusammen mindestens 60 Mark. Arbeiterinnen in nicaraguanischen Textilfabriken schuften dafür 14 Tage.

Jetzt verschlechtert sich die Situation in Nicaragua. Im Norden und Westen des Landes herrscht Hunger. Nach der lange geltenden Regel müsste das bei den Kojoten eigentlich für Hochkonjunktur sorgen. Doch auch in Peñas Blancas herrscht Krisenstimmung: Costa Rica macht den Übergang dicht. Gleich hinter der Brücke über den Sapoa-Fluss, nur einen Meter hinter der Grenze, pickelt eine Hundertschaft Arbeiter einen 970 Meter langen Graben ins Gelände. In ihn soll das Fundament für eine Mauer gegossen werden. „Wir nennen sie die zweite Mauer von Berlin“, sagt El Chele.

„El Chele“ heißt so viel wie „Der Blasse“. Jeder Nicaraguaner, der nicht mindestens milchkaffeebraun ist, trägt diesen Spitznamen. Mehr als den Allerwelts-Spitznamen will der vielleicht 40-Jährige nicht verraten. Denn El Chele ist von Beruf Kojote.

Wenn er gerade keine Kundschaft hat, hängt El Chele am Kiosk von Maritza herum, und man versteht sofort, warum. Maritza ist genau das Gegenteil des etwas schmuddeligen und aufgeschwemmten Kojoten. Sie ist nur halb so alt wie er, groß und schlank. Sie hat freundlich strahlende Augen und hat sich so fein gemacht, dass sie genauso selbstverständlich auf einem Cocktail-Empfang stehen könnte wie in ihrem rostigen Wellblech-Kiosk, an dem die aufgepinselte Coca-Cola-Werbung langsam abblättert. „Seit einem halben Jahr will mich der Chele abschleppen“, sagt sie und lacht. „Das schafft der nie.“

An Maritzas Kiosk gibt es mehr als Bier, Cola und Erdnüsse. Es gibt Uhren, Mobiltelefone, Walkmen. Alles gebraucht, ohne Garantie und spottbillig. Hehlerware. Solange Autos und Lastzüge vor der Grenze warten und ihre Besitzer an einem der vielleicht 50 Kioske lehnen, lassen sich leicht ein paar Kleinigkeiten klauen. Je komplizierter und chaotischer die Abfertigung vonstatten geht, desto mehr Menschen finden ihr Auskommen.

Offiziell nur ein „Verkehrsteiler“

Das Chaos an der Grenze ist der offizielle Grund für den Mauerbau. Der Grenzverkehr solle beschleunigt werden, sagen die Behörden. „Was kann man an einer 320 Kilometer langen Grenze schon mit einer Mauer von nicht einmal einem Kilometer gegen Illegale ausrichten?“, fragt der costaricanische Präsident Miguel Angel Rodríguez und gibt selbst die Antwort: „Nichts.“ Die Mauer sei gar keine Mauer, sondern ein „Verkehrsteiler“, mit dem das Durcheinander geordnet werden solle.

Ein bisschen auffällig ist es schon, dass sich der Präsident persönlich dieses Verkehrsteilers annimmt. Und nicht nur er. Von nicaraguanischer Seite haben der Außenminister, der Verteidigungsminister und der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Außenpolitik die Arbeiten besichtigt. Mehrere bilaterale Ausschüsse beschäftigen sich mit dem Bauwerk.

Bei einer Tagung der zentralamerikanischen Expräsidenten wurde die Mauer als Affront gegen die Integrationspolitik der Region kritisiert. Eine Diskussionssendung zu diesem Thema im costaricanischen Fernsehen bestätigte diese Einschätzung. Bei der anschließenden Zuschauerbefragung sagten 97 Prozent der Anrufer: „Richtig. Die Nicas sollen draußen bleiben.“

Die Zuschauer haben sofort begriffen, was der Präsident nicht sagen will: In Peñas Blancas wird kein Verkehrsteiler gebaut. Der bloße Augenschein bestätigt: 40 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer entsteht hier eine Grenzbefestigungsanlage. Der Graben für das Fundament verläuft so, dass damit gar kein Verkehr geordnet werden kann: weg von der Zollstation entlang der Grenze. Dorthin, wo heute Dutzende von Menschen illegal nach Costa Rica wandern.

Der Chef des costaricanischen Zolls in Peñas Blancas spricht schon deutlicher von der Mauer als „ Schutz vor den Ganoven“, die alles von den Lastwagen klauten. Aber einen Zusammenhang zum Geschäft mit den Illegalen will auch er nicht sehen.

„Alles Quatsch“, sagt El Chele. „Die Costaricaner halten sich für was Besseres und wollen uns hier nicht mehr haben.“ Die Grenzwachen selbst blieben zwar freundlich und hielten die Hand auf. Aber die Zöllner würden seit ein paar Wochen immer rüder. „Immer wieder greifen sie sich einen von uns. Sie haben in der Grenzstation ein Zimmer, und dort sperren sie uns stundenlang ein. Manchmal verprügeln sie uns. Manchmal auch nicht.“ El Chele haben sie vor zehn Tagen aufgegriffen. Zwei Hiebe mit dem Schlagstock. Einen auf die Schulter, einen gegen das Schienbein. Er zeigt die Reste der blauen Flecken.

Noch ist sich der Kojote nicht sicher, wo das alles enden soll. Aber eines ist klar: „Das Geschäft wird schwieriger.“ Im Prinzip gebe es zwei Möglichkeiten. Die erste: „Wir kaufen uns Leitern. Das wäre das Einfachste.“ Aber wer weiß, wie die Costaricaner darauf reagieren. Möglichkeit zwei: „Wir gehen einen weiteren Weg. Aber das bedeutet, dass wir uns organisieren müssen. Wir werden größere Gruppen zusammenstellen müssen. Vielleicht werden wir nur noch nachts über die Grenze können. In jedem Fall müssen wir die Preise erhöhen.“

Costa Rica will nicht nur die Mauer. Zusätzlich sollen 1.000 neue Grenzwächter eingestellt werden. Aber die machen El Chele kein Kopfzerbrechen. „Jeder will sein Würstchen haben“, sagt er. Und Maritza übersetzt: „Korruption wird es hier immer geben.“