Nehm macht die Drecksarbeit

von CHRISTIAN RATH

Gibt es in Deutschland einen politisch-industriellen Schmiergeldkomplex, der auch noch von der Justiz gedeckt wird? Bisher hatten viele Beobachter der Leuna-Affäre diesen Eindruck gewonnen. Der Genfer Generalstaatsanwalt Bernard Bertossa ging mit seinen Erkenntnissen über mögliche „Korruption in Deutschland“ regelrecht hausieren, doch keine deutsche Staatsanwaltschaft wollte ermitteln. Gab es direkte Anweisungen von oben, oder waren die Staatsanwälte einfach zu feige und zu träge, fragte sich da mancher.

Generalbundesanwalt Kay Nehm hat eine andere Erklärung: „Wer den Gesamtkomplex Leuna übernimmt, hat ein Riesenverfahren am Hals. Da muss eine Ermittlungsgruppe eingerichtet werden mit Staatsanwälten, die für die sonstige Arbeit fehlen.“ Er glaubt, dass die Staatsanwaltschaften dabei „mit Blick auf die Haushaltslage“ auch die Deckung der Justizministerien hatten. Nehm räumt auch ein, dass bei diesem Abschieben der Verantwortung sei „viel Porzellan zerschlagen wurde“.

Doch nun soll es endlich vorangehen. Ende letzter Woche sind 60 Aktenordner (inklusive Anlagen) bei der Generalbundesanwaltschaft eingetroffen. Die Unterlagen hatte Bertossa zuletzt Justizministerin Herta Däubler-Gmelin angeboten, die dann Kay Nehm mit der Sichtung beauftragte. „Zwei Drittel der Akten sind in französischer Sprache“, lautet der erste Befund von Deutschlands oberstem Ankläger, der gestern vor Journalisten und Richtern bei einer Veranstaltung in Karlsruhe Auskunft gab. Er werde nun Inhaltsverzeichnisse erstellen lassen, um einen Überblick zu gewinnen und dann „selektiv“ Dokumente übersetzen lassen. „Natürlich haben wir auch Mitarbeiter, die Französisch sprechen. Aber wenn später mit den Akten weitergearbeitet werden soll, dann brauchen wir professionelle Übersetzungen“, betonte Nehm.

Über den konkreten Inhalt der Akten wollte Nehm am Mittwoch noch keine Auskunft geben. Auch die gestern aufgekommene Meldung, in den Akten fänden sich Hinweise auf Schweizer Bankkonten von immerhin 29 Unionspolitikern, wurde gestern in Karlsruhe nicht kommentiert. Die Bundesanwaltschaft wollte nicht einmal sagen, ob der Vermerk der Genfer Kantonspolizei, aus dem Die Woche zitierte, tatsächlich Teil der Akten ist.

An der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder für die Strafverfolgung ändert sich durch Nehms Einsatz erst einmal nichts. „Ich fühle mich als Treuhänder der Länder“, sagte Nehm. Eigene Ermittlungen könnte Nehm nur aufnehmen, wenn eine ausdrückliche Strafverfolgungszuständigkeit des Bundes gegeben wäre. In Frage käme dabei nur die Annahme, dass es rund um den Leuna-Deal eine „kriminelle Vereinigung“ mit staatsgefährdender Tendenz gegeben hat. Da die Rechtsprechung allerdings recht hohe Anforderungen an den Organisationsgrad einer kriminellen Vereinigung stellt, geht kaum jemand davon aus, dass Nehm am Ende selbst mit den Akten arbeiten wird.

Soweit es „nur“ um Geldwäsche, Bestechung und ähnliche Delikte geht, wird am Ende also doch eine regionale Staatsanwaltschaft den Fall übernehmen. „Auch bisher waren die Länder ja nicht untätig“, versucht Nehm den Eindruck zu zerstreuen, er sei mit seinen Länderkollegen unzufrieden, „es gibt Ermittlungen zu Teilkomplexen etwa in Saarbrücken und Magdeburg.“ Das saarländische Verfahren gegen Dieter Holzer erweist sich allerdings als reichlich schwierig (siehe unten). Und die Staatsanwaltschaft Magdeburg, die untersucht, ob es bei der Abrechnung der Leuna-Raffinerie Subventionsbetrug gegeben hat, tendiert dazu, das 1996 schon einmal eingestellte Verfahren erneut zu den Akten zu geben. „Wir haben derzeit keine Anhaltspunkte, das Ermittlungsverfahren wieder zu öffnen“, erklärte gestern der Leitende Oberstaatsanwalt Rudolf Jaspers aus Magdeburg.

Ob die Akten am Ende überhaupt an die Länder weitergegeben werden, musste Nehm vorerst offen lassen. „Auch ich könnte zum Schluss kommen, dass die Akten keine Strafverfahren nahe legen – zum Beispiel weil alles längst verjährt ist“, versuchte der Generalbundesanwalt allzu hohe Hoffnungen gleich zu dämpfen.

Gut möglich, dass am Ende vor allem der Bundestagsausschuss zur Untersuchung des CDU-Spendenskandals von der Karlsruher Sichtungs- und Übersetzungsarbeit profitiert. Ein Antrag auf Akteneinsicht ist bei Kay Nehm allerdings noch nicht eingegangen.

Wie die taz gestern erfuhr, hat übrigens auch die Leuna-Ermittlungsgruppe im Bundesfinanzministerium vorige Woche Post aus der Schweiz bekommen. „Wir haben beim zuständigen Genfer Gericht Akteneinsicht beantragt und rund 20.000 Blatt Papier bekommen“, erklärte eine Sprecherin von Hans Eichel. Ob es sich um die gleichen Unterlagen wie in Karlsruhe handelt, muss festgestellt werden. Möglicherweise kann man sich die Übersetzungskosten teilen, denn auch in Berlin sind die Dokumente überwiegend in französischer Sprache.