Der Mann der vielen Sechsen

taz-Serie „Die Aktivisten“ (Teil 8): Seine Zeichen sind in der ganzen Stadt bekannt. Der 41-Jährige aus der Pfalz malt jeden Tag Sechsen, Internetadressen und Buchstaben an die Wände. Damit will er berühmt werden und gegen den Verkehr protestieren

von KIRSTEN KÜPPERS

Es gibt viele Wege, die zu Berühmtheit führen: Man kann einen schönen Popsong schreiben, sich als Serienschauspieler versuchen, mit einem Flugzeug auf dem Roten Platz eines anderen Gesellschaftssystems landen. Man kann auch einfach die Ziffer Sechs malen. Überall, auf all seinen Wegen in der Stadt; für bessere Signalwirkung dafür sogar hochklettern auf hohe Häuser; man kann also ringsum eine Spur hinterlassen, um der Welt zu zeigen, dass man noch da ist und keinesfalls vergessen werden soll.

So macht es der Mann, der im folgenden A. genannt werden möchte. A. will unbedingt berühmt werden. Noch viel mehr als der Fernsehstar Harald Juhnke, sagt er. Deswegen ist Berlin schon ganz voll mit seinen weißen Sechserschwüngen, entlegene Gegenden, Keller und Hinterhöfe genauso wie das Kranzler-Eck am Ku’damm. Selbst vom Pariser Eiffelturm soll eine von A.s Sechsen zu sehen sein.

Ob die Menschen das nun anstrengend finden oder ausgefallen – einigen Bekanntheitsgrad haben seine Zeichen mittlerweile erreicht. Eigentlich ist der 41-jährige A. Chemielaborant, Altenbetreuer und Fußpfleger von Beruf. Vor zehn Jahren fühlte er indes den Drang nach „Höherem“, meint A.

Man kann das verstehen. A.s Sätze tragen jene weiche Sprachfärbung, die Menschen haben, wenn sie aus kleinen pfälzischen Orten in der Nähe von Ludwigshafen kommen. Und wer sich, wie er, dort mit sonderbaren Erfindungen wie einem „rundum erneuerbaren Fahrradreifen“ oder einem „Rolltreppenfahrzeug“ von der lokalen Bevölkerung abhebt, muss dann wohl irgendwann weg aus der Provinz und auf nach Berlin, wo immer genug Platz zu sein scheint für alles, was woanders nicht hinpasst.

So kam A. 1995 vom Rhein an die Spree, ursprünglich nur wegen Christos Reichstagsverhüllung und um gegen den Klimagipfel zu demonstrieren. Doch dann fing er an, täglich 400 Plakate mit dem Wort „Dildo“ sowie einem Unendlichkeitszeichen zu übermalen, kurzum ganze Stadtlandschaften mit einer eigenen Signatur zu versehen. Eine zeitfüllende Form des Ausdrucks war gefunden, genauso wie mit ihr auf einmal eine Zukunft jenseits der Bedeutungslosigkeit möglich schien. Jeden Tag viele Stunden zieht A. seither mit Pinsel und Farbeimer durch die Straßen. Er nennt sich jetzt Künstler. Und um seine Fährten zu hinterlassen, steigt er meist nicht mal vom Fahrrad.

Als neuen Namen hat er sich das Phantasiewort „t@lkmaster.com“ zugelegt, was wie ein modernes virtuelles Computerwesen klingt. Seine Schriftzüge wirken dagegen eher archaisch, wie schmutzige Reste problemorientierter Sozialkunst oder flüchtig hingeworfene Botschaften eines Menschen, der agressiv und grob irgendetwas von seiner Umwelt einfordert.

Was das sein soll, ist allerdings nicht klar. Sex? Liebe? Aufmerksamkeit? Hilfe? Revolution? „Sex bekommt mehr Öffentlichkeit“, ist A.s schlichte Erklärung, warum seine Zeichen meist sexuelle Signale darstellen. Das stimmt.

Ärger mit Feministinnen hat er sich deswegen schon eingehandelt. Die Sechsen und Dildos sollen jedoch lediglich als Werbung für ihn, den Künstler „t@lkmaster.com“, funktionieren, meint A. Nicht als Nachricht mit Gehalt. Einen großen Gedanken, den gibt es dabei zwar. Aber der ist ganz weit hinten in A.s Kopf vergraben und erschließt sich keinesfalls einfach. Denn seine Markierungen haben nur den einen Sinn: A. ist gegen den Autoverkehr.

„Wenn ich mich auf die Straße setze, um gegen Autos zu protestieren, kümmert das niemanden. Aber wenn Harald Juhnke sich auf die Straße setzt, interessiert das die ganze Stadt“, glaubt A. Darum drängt es ihn nach ewiger Berühmtheit; darum träumt er von Blitzlichtgewitter, Fernsehkameras, Interviews, Leitartikeln, internationalem Presseecho. Damit man es dann irgendwann einfach herausschreien kann: dass es eine namenlose Ungerechtigkeit ist, was da passiert mit uns und dem Verkehr; dass Menschen totgefahren werden jeden Tag; dass die Luft immer giftiger wird von den Abgasen; dass die Natur jetzt schon von den Autobahnen kaputtgeschnitten ist; dass wir uns einfach tyrannisieren lassen von diesem Wahnsinn.

Damit einem jedoch auch nur eine kleine Menschenseele in dieser poppig-abgestumpften Medienwelt überhaupt noch zuhört, muss man prominent sein, eine Wichtigkeit haben in diesem System. Jedes Kind weiß doch, dass es heutzutage nur so funktioniert.

Das mag eine radikale Position sein, aber Umweltverbände, Greenpeace-Gruppen, Fahrradclubs, Naturschutzorganisationen, Fußgängervereine sind ihm eben einfach „viel zu lasch“ in ihrem Kampf gegen diesen Terror, meint A. Und er sagt das ganz ohne bebende Wut in der Stimme. Sondern einfach nüchtern und aufgeräumt. So wie er überhaupt ganz nüchtern und aufgeräumt in einem blauen Hemd und schwarzer Hose in seinem Zimmer sitzt, das einen genauso stillen, praktischen Eindruck macht mit Bücherregalen aus Kiefernholz, einem Computer und nicht viel mehr.

Vielleicht hat hier jemand über die Jahre einfach sein Ziel aus den Augen verloren. Das Verkehrsthema ist jedenfalls schnell abgeschüttelt, A. redet weiter von den Sechsen, t@lkmaster.com, und dem Ruhm.

Inzwischen beschriftet er nicht nur jeden Tag aufs Neue den Stadtraum, er hat seinen Aktionsradius auch auf das Internet erweitert, wo er seine Zeichen umfangreich dokumentiert. Inzwischen betreibt er für dieses Medium auch „Adressdesign“. Das heißt, A. erfindet Domainnamen, die sich gleichzeitig als Mailadresse nutzen lassen und die er gewinnbringend an andere Nutzer verkaufen will, „www.americ@business.com“ zum Beispiel.

Acht Millionen US-Dollar will er dafür haben. Irgendein prestigebewusstes amerikanisches Wirtschaftsunternehmen wird ihm diese Summe schon bieten, da ist sich A. sicher. Die Adresse „smsfree.de“ ist er schließlich auch für 3.000 Mark losgeworden. Ja, A. hat das alles genau durchdacht. Das könnte ein Lebensunterhalt werden. Denn A. mag vielen Menschen sehr auf die Nerven fallen, aber dumm ist der Mann, der aus dem Südwesten kam, nicht.

400 Polizeikontrollen hat er bereits unbeschadet überstanden, bei denen ihn die Beamten eigentlich drankriegen wollten wegen seiner Sechsen. Doch A. malt nur auf aufgegebenem Material: Müll, Bauzäunen, Plakatresten, Abbruchhäusern. Das ist nicht strafbar. Auch die weiße Farbe, die er verwendet, kostet ihn keinen Pfennig. Alles Abfälle aus Bauschuttcontainern. Und der kaputte Kühlschrank, der mit einer großen Sechs von einem Hausdach in Mitte auf Passanten und S-Bahn herunterwinkt, stamme ebenfalls von der Straße, behauptet A.

Das Kühlschrankmonument sei schon ziemlich gut gelungen, findet er. Aber „eines der größten deutschen Kunstwerke“ seien doch die riesenhaften Buchstaben, die er auf der Backsteinfassade einer alten Fabrik nahe dem Ostbahnhof zurückgelassen hat. Größenwahn ist ein bekanntes psychisches Phänomen in städtischen Ballungszentren, das muss nicht gleich beunruhigen – im Gegensatz zu seinen Zeichen wirkt A. als Person ansonsten eher schüchtern. Und wenn er von Fans berichtet, denen die Sechser inzwischen zu vertrauten Heimatinsignien imitten der bedrohlichen urbanen Welt geworden sein sollen, traut sich das Hochgefühl nur ganz vorsichtig ins Gesicht.

Es soll allerdings Menschen geben, die sich in den Seitenwegen ihrer Ideen verrannt haben. Etwas verdruckst sagt A. später beim Abschied noch einen wichtigen Satz: „Die Sache mit dem Verkehr muss ich in den nächsten fünf Jahren mal angehen.“