Spielzeuge der Erinnerung

Vor einem Jahr schufen Schüler ein Denkmal am Ort des früheren jüdischen Baruch-Auerbachschen Waisenhauses. 17 Tage nach der Einweihung wurde es zerstört. Jetzt gibt es eine Ausstellung

Die Gegenstände erinnern an die Schutzlosigkeitder Kinder

von KATJA BIGALKE

Eine niedrige Klinkermauer vor einem adretten Vorgarten: Dübel und verschmierte Tonreste durchbrechen die glatten Oberfläche. Daneben eine kleine Tasse, ein Buch und eine Mundharmonika aus Ton. An der Mauer ist auf Kniehöhe eine Tafel angebracht: „Hier stand das Baruch-Auerbachsche Waisenhaus“ steht da. „Zur Erinnerung an die jüdischen Kinder und Erzieher, die am 19. Oktober aus Berlin deportiert wurden. Sie kamen nie zurück.“

Die Schönhauser Allee 162 ist einer der vielen Standorte in der spezifischen Berliner Topographie des Terrors. Wie das zerbombte Haus mit den Namensschildern jüdischer Bewohner in der Großen Hamburger Straße oder die Hinweisschilder im Bayerischen Viertel, die an die Geschichte der ausgegrenzten und ermordeten jüdischen Anwohner erinnern, erzählt auch das Haus an der Schönhauser Allee eine traurige Geschichte aus dem Alltag.

Außer der Tafel und den Spielsachen weist nichts auf die Vorgeschichte des Wohnhauses hin. Übrig geblieben ist nur die Ziermauer, die den Hinterhof zum Nachbargrundstück abgrenzt. Am Ende dieser Mauer ist die Schwelle einer Toreinfahrt erkennbar. Daneben ein Poller aus Stein, der die Durchfahrt in den Innenhof des Waisenhauses schützte. Überreste sind aber nicht Erinnerungen. „Weißt du, was das ist?“, fragt ein Hausbewohner, der im Hinterhof sein Motorrad repariert. Nur Fragmente machen das Schicksal der kleinen, stillen Orte der Erinnerung aus. Alles andere ist Geschichte.

Im Jahr 1897 zog die Baruch- Auerbachsche Waisen-Erziehungsanstalt von der Oranienburger Straße 38 an den Ort, wo heute das gelbe Wohnhaus steht. Damals kam hier das jüdische Sophie-Goldschmidt-Mädchenheim und ein Heim für Jungen unter. Seit Mitte der Zwanzigerjahre nutzte die liberale jüdische Reformgemeinde „Norden“ die im Gebäude befindliche Synagoge für ihre Gottesdienste. Während der Nazizeit wurde die Erziehungsanstalt zum letzten Zufluchtsort der Waisenkinder der Umgebung. Andere jüdische Einrichtungen wie das Waisenhaus im Weinbergsweg, das Pankower Waisenhaus oder das Kleinkinderheim in der Gipsstraße mussten schließen. Im Innenhof des Baruch-Auerbachschen Waisenhauses wurden hingegen auch nach der Machtergreifung Hitlers weiterhin jüdische Feste gefeiert. In einer Chronik wird die Schönhauser Allee 162 als „ruhige Oase inmitten der Wüste“ beschrieben.

Eine Zukunft hatten die Kinder aber auch dort nicht. Am 19. Oktober 1942 wurde das Haus geräumt und die überwiegende Zahl der noch verbliebenen 270 Waisen mit dem 21. Osttransport nach Riga deportiert und ermordet.

Hans Rosenthal, dessen Bruder Gert zu dieser Zeit in dem Haus lebte, erinnert sich in seiner Autobiografie: „Als ich ein letztes Mal ins Waisenhaus ging, um Abschied zu nehmen, hatte Gert von seinen Ersparnissen 50 Postkarten gekauft. Er hielt sie stolz in der Hand und zeigte sie mir: Hansi, auf diesen Postkarten steht schon deine Adresse. Ich habe sie alle vorbereitet. Alle zwei Tage werde ich dir schreiben, wo ich bin und wie es mir geht! – Ich habe nicht eine dieser Postkarten bekommen.“

So wie das Gebäude heute nur noch als Bruchstück einer Mauer vorhanden ist – das Haus, in das nach 1942 die Hitlerjugend einzog, wurde im Krieg stark beschädigt und in den 50er-Jahren abgerissen –, so wird auch an die deportierten Kinder nur noch in Bruchstücken erinnert.

Am 27. Juni 2000 hatte Andreas Nachama, der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, an der Schönhauser Allee 162 das Denkmal eingeweiht, das 18 Schüler eines Kunstleistungskurses der Kurt-Schwitters-Oberschule für die ermodeten Kinder entworfen hatten. 18 Spielsachen erinnerten in gebrannten Ton an das Waisenhaus und daran, dass hier Kinder lebten, die keine Chance hatten, lange mit solchen Spielsachen zu spielen. 17 Tage nach seiner Einweihung wurde das Denkmal mutwillig zerstört.

Das, was man heute nicht mehr sieht, war das Ergebnis eines Schülerwettbewerbs, den das Bezirksamt Prenzlauer Berg 1998 ausgerufen hatte. Eine Schulklasse, die zu dem Waisenhaus recherchiert hatte, hatte den Bezirk aufgefordert, ein Denkmal an der Stelle zu errichten, „wo heute nichts mehr an das jüdische Waisenhaus und das Schicksal der Zöglinge und ihrer Erzieher erinnert“.

Die Tonspielsachen der Kurt-Schwitters-Oberschüler hatten sich damals durchgesetzt. „Die auf der Mauer zerstreuten Gegenstände erinnerten in anrüherender Weise an das Chaos, das im Kinderalltag vorherrscht und an die Schutzlosigkeit der Kinder“, kommentiert Andrea Gärtner, Leiterin des Kulturamtes Pankow, zurückblickend die Auswahl. Mit der Zerstörung des Denkmals hat die Schutzlosigkeit einen neue Dimension bekommen. Durch den brutalen Umgang mit den zerbrechlichen Gegenständen ist das Denkmal zum Mahnmal geworden.

Das Kulturamt hat nun beschlossen, eine neue Tafel und neue Kinderspielzeuge anfertigen zu lassen. Die Tafel wurde am Mittwoch angebracht. Fotos der Waisenkinder sind darauf abgebildet, die Schach spielend im Hof sitzen, Fußball spielen und Puppenwagen herumfahren. Daneben Bilder von einst intakten Spielzeugen wie eine Holzente, die Kasperlpuppe und das Steckenpferd aus Ton.

Wie vor einem Jahr sind 18 Schüler der Kurt-Schwitters-Schule bei der Einweihung dabei. In Schwarz gekleidet halten sie ihre Tonfiguren wie Opfergaben in den Händen. Weil die Idee allen gefallen hat, hat sich die Klasse bereit erklärt, die neuen Tonspielsachen zu entwerfen. Die 17-jährige Kathrin hat einen Lastwagen gemacht, Franziska eine Brottasche und Martin ein Flugzeug „Ich dachte mir, für Kinder aus der Zeit war das Fliegen bestimmt ganz wichtig. Das war ja ganz neu damals.“ Anja mit dem Spiegel aus Ton in der Hand sagt: „Mädchen freuen sich über einen Spiegel. Alle Mädchen haben einen kleinen Spiegel zu Hause.“

Die Schüler haben sich ganz bewusst für die selbe Machart entschieden. „Weil Ton so schön ist und so still“, sagt Franziska. Bronzeskulpturen wollten sie nicht machen, auch nicht die Tonfiguren unter Panzerglas stellen. Das hätte dem ganzen den Sinn genommen, meinen sie. Aber die Spielzeuge stehen lassen wollen sie nach den Erfahrungen der letzten Klasse nicht.

Sebastian ist auch gekommen. Er hatte den Ball gemacht, der zertrümmert wurde. Er hatte das zwar damals schon befürchtet, „weil die Ggenstände so labil waren“, sagt er. Aber als es dann passiert ist, war er schon „sehr erschrocken“. Jetzt steht er da, während die neue Gedenktafel eingeweiht wird, ist ganz still. „Es gab gar nicht so viele Dokumente über das Leben der Kinder. Die Idee mit den Spielsachen ist uns gekommen, weil Spielzeug die Gefühle ansprechen und diese gegenständlich machen.“ Sein Ball ist jetzt nur noch auf dem Foto vorhanden.

Die Gedenktafel ist eingeweiht. Die Schüler packen ihre Tonfiguren in eine Kiste. In den nächsten Tagen sollen sie neben den zertrümmerten Spielsachen im Museum Prenzlauer Berg ausgestellt weden. Da sind sie sicher vor Zerstörung. Da können sie noch lange von der Geschichte der Geschichte erzählen. Auf der neuen Gedenktafel steht ein kleiner Verweis auf den Austellungsort.

Die Schüler verabschieden sich, sie haben jetzt Ferien. Zurück bleibt die kleine Tasse, das Buch, die Mundharmonika und die Tafel. Die Künstlerin Karla Sachse, die die beiden Klassen in ihrer Tonarbeit betreut hat, möchte, dass einmal im Jahr eine Schulklasse die Spielsachen an die Schönhauser Allee 162 zurückbringt. „Damit die Erinnerung lebendig bleibt“, sagt sie. Die kleinen, stillen Orte des Erinnerns haben alles, was auch die großen Orte haben: Spuren, Denkmäler, Gedenkzeremonien, eine Geschichte des Gedenkens und Verweise. Nur übersieht man sie leicht – gliedern sie sich so lückenlos in den Alltag, wie das Wohnhaus Schönhauser Allee 162 in die Häuserzeile.