Stadt, Land, Vers

Die in Polen geborene, seit langem in Hamburg lebende Lyrikerin Alicja Wendt hat ihre Heimat im Gedicht gefunden  ■ Von Karin Liebe

Die kurze Form liegt ihr. Schon öfters hat sie versucht, etwas Längeres zu schreiben. Doch dann streicht sie so lange herum, bis wieder ein Gedicht daraus wird. Alicja Wendt redet so, wie sie schreibt: knapp, aber mit viel Gefühl. Mit einem ganz leisen Bedauern in der Stimme, aber auch mit viel Stolz spricht die große, schlanke Frau über ihren Hang zur Miniatur, während sie nach einer langen, schlanken Zigarette aus dem Etui greift.

Gedichteschreiben ist eben ihre Form, die Welt zu sehen, egal, ob sich das nun gut verkauft oder nicht. Und das tut es natürlich nicht. Nicht einmal ansatzweise kann die 1963 in Polen geborene Dichterin vom Gedichteschreiben leben. Sie bestreitet ihren Lebensunterhalt von Übersetzungen und ihrem Job als Kassiererin, Platzanweiserin und Garderobiere am Schauspielhaus. Und dann sagt sie etwas, das sicher viele Schriftsteller weit von sich weisen würden: „Dichten ist eine Therapieform. Ich kreise um den eigenen Bauchnabel.“

Zur Selbstanalyse ist Alicja Wendt offenbar fähig, doch wie sieht es mit der Kritikfähigkeit jenseits der eigenen Befindlichkeit aus? Am 12. Juli wird die Dichterin ihre Urteilskraft beim 3. Lyrik-Wettbewerb Open Air live auf dem Gänsemarkt unter Beweis stellen. Gemeinsam mit drei anderen Juroren, allesamt Kulturjournalisten, ermittelt sie unter 16 Lyrikern, die in jeweils fünf Minuten Lesezeit ihre Gedichte präsentieren können, die Gewinner.

Keine leichte Aufgabe. Denn Alicja Wendt kennt auch die andere Seite, das aufregende Gefühl, selbst auf dem Prüfstein zu stehen. Zweimal schon galt der Siegerapplaus beim Lyrik-Wettbewerb Open Air ihr: 1999 gewann sie den ersten Preis und letztes Jahr den dritten. Zweimal ist sie auch schon mit dem Literaturförderpreis der Stadt Hamburg bedacht worden: 1993 für ihre Gedichte und 1999 für ihre Übersetzungen aus dem Polnischen, ihrer Muttersprache.

Als Alicja Wendt mit 13 Jahren aus der kaschubischen Kleinstadt Bytow nach Hamburg kam, war sie gar nicht glücklich über den Umzug. Die Freunde weg, die Landschaft weg, die Sprache weg. Zu Hause in Polen hatten sie trotz der deutschstämmigen Mutter nie Deutsch gesprochen. In Hamburg lernte sie dann ihre eigentliche Muttersprache – zuerst in einer Schule für Aussiedlerkinder. Heute spricht Alicja Wendt ein geschliffenes Deutsch, nur das rollende R erinnert an ihre Vatersprache.

Auch in ihren Gedichten schwingt viel von der vom Westen so definierten „Mentalität“ des Ostens mit: etwas Schweres, Melancholisches und ein eigenartiger, vom Polnischen inspirierter Sprachduktus, den Alicja Wendt selbst nicht so richtig erklären kann. Das klingt dann etwa so:

Die alten Herren

ganz Zeit

an der Mauer

die Sonne zwischen

dem Zahnrest

harren der Dinge

die den Dorfweg entlang.

Mindestens einmal im Jahr fährt Alicja Wendt nach Polen, isst dort „Heimwehgerichte“ wie Piroggen und Sauerampfersuppe und genießt die wellige Landschaft, die nicht von ungefähr „Kaschubische Schweiz“ heißt. Aber dann ist sie immer wieder auch froh, in die westeuropäische, weitläufige Großstadt zurückzukehren.

Inzwischen ist sie im Gedichteschreiben zwischen den Kulturen zu Hause. Ihr Idol ist der 1998 gestorbene polnische Dichter Zbigniew Herbert, in der Hamburger Literaturszene fühlt sie sich aber auch aufgehoben. Alicja Wendt ist Mitglied im Forum junger AutorInnen, die sich zweimal im Monat treffen und eine Anthologie pro Jahr veröffentlichen. Und sie mag die „Familientreffen“ in der „Schilleroper“, wo sich bei Lesungen immer wieder derselbe kleine Kreis von Lyrikliebhabern trifft. Die Slam-Poetry-Szene dagegen ist ihr fremd. Auf den Text kommt es ihr an, nicht auf die Show. Also, ganz pur noch ein Wendt-Gedicht:

Südwärts

Das Brecheisen unter die sechsteRippeaus der Öffnung sickert estraumschwerder rote Fluß trägt immer nurdeinen Namenschon so lange halte ich den Atemanin meinem Innernsteht der Himmel stillder Mond rostet auf der Zungeschon so lange bin ich unterwegsmit nichts als Worten im Gepäckund einem Augenaufschlagfür den richtigen Momentder in deiner Hand

Lyrik-Wettbewerb Open Air: 12. Juli, 18 bis 21.30 Uhr, Gänsemarkt, Eintritt frei