Schwindender Konsens

Das Europaparlament möchte eine Leitlinie zur Bioethik formulieren. Doch die Meinungen gehen immer weiter auseinander

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Das medizinisch Machbare kennen lernen und das ethisch Vertretbare gemeinsam festlegen – so lautete der Auftrag, den die Abgeordneten des Europäischen Parlaments ihrem Humangenetik-Ausschuss gaben. Vor einem Jahr wurde er eingesetzt, heute nun endet die erste Phase. Zehn Anhörungen mit Medizinern, Juristen, Kirchenvertretern und Politikern haben die Abgeordneten hinter sich.

Nach sechs Monaten intensiver Debatten ist der konservative Europaabgeordnete Peter Liese ernüchtert: „Ich sehe keine realistische Chance, dass wir zu einer einheitlichen Regelung kommen.“ Ohnehin kann die EU in diesem Bereich kein Recht setzen. Zuständig sind die Nationalstaaten. Das Europaparlament wollte aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedsländern kennen lernen und den kleinsten gemeinsamen Nenner ermitteln. Daraus soll der Ausschuss bis zum Ende des Jahres europäische Leitlinien zur Bioethik formulieren.

Nach Lieses Beobachtung schrumpft der Minimalkonsens rascher, als Politiker mit ihren Debatten folgen können. Was heute als Stoff für Science-Fiction-Filme geeignet scheint, wird schon morgen in einem Reagenzglas irgendwo ausprobiert. Organe aus embryonalen Stammzellen, genetische Tests vor der Einpflanzung im Mutterleib (PID) – je mehr medizinisch möglich ist, desto schneller steigt die Bereitschaft mancher Regierungen, Machbares zu erlauben, um wissenschaftlich nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Noch vor einem Jahr haben die Mitglieder aller nationalen Parlamente und Regierungen sowie die EU-Parlamentarier die Europäische Grundrechtecharta beschlossen. Sie verbietet es, den menschlichen Körper und dessen Teile Gewinn bringend zu verkaufen. Auch das reproduktive Klonen von Menschen untersagt sie. In mehreren Resolutionen hat das Europaparlament einstimmig die verbrauchende Embryonenforschung, bei der aus überzähligen Embryonen Stammzellen gewonnen werden, abgelehnt. Liese ist überzeugt, dass dieser Konsens schwindet. Würde man heute das Parlament noch einmal fragen, stünden höchstens 80 Prozent der Abgeordneten zu ihrer damaligen Position.

Tatsächlich hat die Debatte im Humangenetik-Ausschuss gezeigt, wie weit die Positionen inzwischen auseinander liegen. So ist in Italien außer menschlichem Klonen jegliche Bastelei an menschlichem Erbmaterial erlaubt. Auch in Belgien gibt es so gut wie keine Gesetze. Die strengste Gesetzgebung hat Deutschland mit seinem Embryonenschutzgesetz.

Vor „genetischem Tourismus“, der durch dieses juristische Patchwork entstehen könnte, warnten Experten und Politiker in den Ausschussdebatten immer wieder. So können britische Eltern, die das Geschlecht ihres Kindes festlegen wollen, nach Italien fahren. Dort ist es erlaubt, eine befruchtete Eizelle danach auszuwählen, ob daraus ein Mädchen oder ein Junge wird. Im deutschen Justizministerium wird derzeit darüber nachgedacht, wie deutsche Ärzte, die ihre Patientinnen an Kollegen im Ausland verweisen, juristisch belangt werden können. Zu welchen Auswüchsen der wissenschaftliche Hunger nachmenschlichen Eizellen führen kann, berichtete Cinzia Caporale, Professorin für Bioethik an der Universität Siena. Mit Flugzeugen würden Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Westeuropa gebracht, damit sie die bei Humangenetikern so begehrten menschlichen Eier für Forschungszwecke spenden.

In Deutschland seien höchstens zwanzig „verwaiste Embryonen“ verfügbar, schätzt Liese. Schon deshalb hält er die wissenschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung der Embryonenforschung für gering. Vielversprechender und ethisch unbedenklich seien Versuche, aus erwachsenen Stammzellen Organe zu züchten. Bei körpereigener Knorpelmasse zum Beispiel funktioniert das bereits heute.

Der Wahn, genetisch makellose Nachkommen zu produzieren, ist mit wirtschaftlichen Argumenten allerdings nicht zu stoppen. Die Tübinger Wissenschaftsethikerin Hille Haker erinnerte den Ausschuss daran, dass schon Tests im Mutterleib, die Hinweise auf Anomalien geben, immer das Todesurteil für das ungeborene Baby bedeuten. Auch die Auswahl des vielversprechendsten Zellhaufens vor der Einpflanzung in den Mutterleib hält sie für ethisch nicht vertretbar. Der Mediziner Paul Devroey dagegen will verhindern, dass Erbkrankheiten von einer Generation an die nächste weitergegeben werden (siehe unten). Von den Politikern verlangt er Minimalstandards für ganz Europa. Genau das wird der Ausschuss in der zweiten Jahreshälfte versuchen.