„Manche sollten sich nicht zu früh freuen“

Marianne Birthler, Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, über die möglichen Konsequenzen des Kohl-Urteils

taz: Frau Birthler, Ihre Behörde hat zehn Jahre die Stasi-Akten von Prominenten herausgegeben. Haben Sie gegen das Gesetz verstoßen?

Marianne Birthler: Wir haben den Bundestag vier Tätigkeitsberichte unserer Arbeit zukommen lassen. Niemand hat die Herausgabe der Akten beanstandet. So gingen wir davon aus, dass unsere Praxis dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Das ist in der nächsten Instanz zu klären und da sind noch nicht alle Argumente gesprochen. Wenn das jetzige Urteil Bestand hat, hieße das tasächlich, dass wir zehn Jahre lang mit Billigung der Bundesregierung und des Bundestags ohne hinreichende Rechtsgrundlage gearbeitet hätten. Aber ich gehe davon aus, dass das jetzige Urteil nicht bestätigt wird.

Sie haben Broschüren herausgegeben, in denen sie aus Akten prominenter Opfer zitieren. Es sind Akten an Forscher gegangen. Befürchten Sie nachträglich juristischen Ärger?

Uns beschäftigt weniger die Frage, wie wir rückwirkend damit umgehen, sondern die, wie wir es in Zukunft halten. Und hier wird der Anteil derer unterschätzt, die von diesem Rechtsstreit berührt sind. Viele meinen, das jetzige Urteil betreffe nur einen ganz schmalen Sektor, aber der allergrößte Teil von Presse- und Wissenschaftsanträgen zur Aufarbeitung ist davon betroffen. Und das sind nicht nur die paar westdeutschen Politiker. Uns bekümmert vor allem, dass wir künftig jeden SED-Funktionär, jeden Bürgermeister fragen müssten, ob er was dagegen hat, dass wir seine Akten herausgeben oder in anderen Akten sein Name erwähnt wird.

Wieso können SED-Funktionäre das verlangen?

Weil die Begriffe „Opfer“ und „Täter“ im Stasi-Unterlagen-Gesetz gar nicht vorkommen. Wir können nur trennen nach Leuten, die für die Stasi gearbeitet haben und die von ihr bespitzelt worden sind. Und zu den Bespitzelten gehören nun mal auch SED-Funktionsträger. Die Stasi hat auch ihre eigenen Verbündeten bespitzelt. Und deswegen gelten sie teilweise als Betroffene, genauso wie Kohl. Das bedeutet für die Herausgabe von Akten eine Konsequenz, von der ich mir nicht denken kann, dass der Gesetzgeber sie gewollt hat.

Wie beurteilen Sie die Aussagen früherer DDR-Oppositioneller, die sagen, das Urteil gehe in Ordnung?

Die Konfliktlinien im Stasi-Unterlagen-Gesetz laufen immer quer durch alle Parteien. In einer Pressemitteilung wurden im gleichen Atemzug der Pfarrer Friedrich Schorlemmer und der CDU-Abgeordnete Arnold Vaatz erwähnt. Die sind öffentlich sonst selten einer Meinung. Auf der anderen Seite kritisieren SPD-Fraktionsvorsitzender Peter Struck und Unions-Abgeordneter Günter Nooke das Urteil. Das ist doch spannend.

Dennoch verwundert, dass DDR-Oppositionelle sagen, sie begrüßten das Urteil.

Natürlich gibt es auch unter Bürgerrechtlern Streit, ob man die Akten öffnen sollte, ohne die Einwilligung der Betroffenen zu haben. Es ist eine Minderheit, die erst Einverständnis fordert.

Kohl hat immer argumentiert, die Stasi habe Informationen nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln gesammelt. Deshalb dürften die Akten nicht veröffentlicht werden.

Das Argument sticht deshalb nicht, weil fast alle Informationen in den Akten nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln gesammelt wurden. Wenn Kohls Argument ein Leitgedanke gewesen wäre, hätte man das Gesetz so nicht verabschieden dürfen.

Wie viele Anträge auf Einsicht in die Akten von Helmut Kohl liegen denn vor?

Jedenfalls eine zweistellige Zahl.

Wie schaut es aus mit Akten, in denen Kohl nur als Dritter auftaucht, wo zwei andere sich über ihn unterhalten? Dürfen Sie die dann rausgeben?

Nein. Wenn das Urteil Bestand hat, müssen wir auch in den Akten anderer, in denen er auftaucht, seinen Namen schwärzen.

Ihre Behörde hat immer private Informationen geschwärzt, bevor Akten öffentlich gemacht wurden. Wo sehen Sie die Grenze zwischen privat und öffentlich?

Es wird immer eine Ermessensfrage bleiben. Wir haben den Betroffenen mit einer Richtlinie die Möglichkeit gegeben, mit uns darüber zu reden. Sie konnten mit uns diskutieren, was in ihrer Akte private Informationen sind und wo das öffentliche Interesse überwiegt – auch wenn wir uns von der Meinung des Betroffenen nicht abhängig gemacht haben. Es ist wie bei Medikamenten. Sie werden immer mit Risiken und Nebenwirkungen leben müssen. Wenn Sie das ausschalten wollen, müssen Sie das Medikament absetzen, die Akten dichtmachen.

Fürchten Sie, das Urteil ist ein Schritt in diese Richtung: die Akten ganz dichtmachen?

Nein. Es hat immer Leute gegeben, die forderten, die Akten ganz zu schließen. Sie werden sich nicht durchsetzen. Auch nach dem Urteil hat jeder die Möglichkeit, in seine Akte zu sehen. Und die Behörde kann nach wie vor prüfen, ob jemand inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war. Da sollten sich manche nicht zu früh freuen.

INTERVIEW: RALF GEISSLER