Kohls Akten gehören Kohl allein

Das gesammelte Stasimaterial über den Exkanzler darf nicht an Forscher und Journalisten gereicht werden, entscheidet das Berliner Verwaltungsgericht. Denn Kohls Persönlichkeitsrecht als Opfer der Stasi geht vor allgemeines Aufklärungsinteresse

aus Berlin RALF GEISSLER

Die graue Theorie zählte am Ende mehr als die jahrelange Praxis. Ohne gerichtlichen Widerspruch hatte die Stasiunterlagenbehörde zehn Jahre lang die Akten von prominenten Opfern der Wissenschaft und Journalisten zur Verfügung gestellt. Doch die Akten von Helmut Kohl darf sie nun nicht herausgegeben. Das entschied gestern das Verwaltungsgericht Berlin.

Denn das Stasi-Unterlagen-Gesetz regele, dass die Interessen der Opfer der Staatssicherheit mehr zählen als die Wissbegier einiger Forscher oder Journalisten, so der Richter Volker Markwort in seiner Urtreilsbegründung. „Der Wortlaut des Gesetzes ist nun mal maßgeblich.“ Und so wird es vorerst weiterhin offen bleiben, ob die Stasi Wissenswertes über Kohls Rolle in der Leuna-Affäre protokolliert hat.

Kohls Anwalt Stephan Holthoff-Pförtner hatte während des Prozesses erklärt, sein Mandant beanspruche lediglich Rechte, die jedem anderen Opfer des SED-Regimes auch zustehen. Und dass er ein Opfer ist, daran bestehe kein Zweifel. Der ostdeutsche Geheimdienst habe seinen Mandaten bespitzelt und Akten über ihn angelegt. Mehrere tausend Seiten sollen es sein. „Ihm ist damit Unrecht geschehen“, sagt Holthoff-Pförtner. „Und wir werden nicht hinnehmen, dass dieses Unrecht noch einmal öffentlich ausgebreitet wird.“

Nach Ansicht von Kohls Anwälten war die Gesetzeslage von vornherein eindeutig. So steht im Gesetz über die Stasiunterlagen, dass Akten nur über Personen herausgegeben werden dürfen, die selbst für den DDR-Geheimdienst gespitzelt haben oder aus seiner Existenz Vorteile zogen. Beides kann Kohl nicht unterstellt werden. Und auch die Tatsache, dass er eine Person der Zeitgeschichte ist, rechtfertige nicht, dass andere in seine Stasiakten sehen dürfen, meint sein Anwalt. Auch das steht im Gesetz.

„Ein Missverständnis“ nannte der Anwalt der Stasiunterlagenvehörde, Carl Stephan Schweer, den entsprechenden Paragrafen. Das Parlament habe, als es das Gesetz beschloss, keineswegs gemeint, man solle die Akten prominenter Opfer nicht öffentlich machen. „Dann könnte man ja gar nicht mehr forschen, weil die Entscheidungsträger ihre Akten unter Verschluss halten.“ Für die Annahme eines Missverständnisses spreche auch die praktische Anwendung des Gesetzes. Zehn Jahre seien von anderen Politikern Akten öffentlich gemacht worden, so von Willy Brandt und Helmut Schmidt. „Das Parlament und die Regierung wussten das und sie haben es nie moniert.“ Somit habe auch Exkanzler Kohl diese Praxis für richtig gehalten.

Holthoff-Pförtner sah in dieser Äußerung fast eine Beleidigung. „Damit unterstellen Sie meinem Mandanten, er habe die Herausgabe von Akten aus Schadenfreude geduldet und es störe ihn erst jetzt, wo es ihn selbst betrifft.“ Zumindest in einem Punkt äußerte auch Richter Volker Markwort Bedenken: „Die jahrelange Praxis ist für die rechtliche Beurteilung irrelevant.“ Entscheidend sei, was im Gesetz steht.

Die Stasiaktenbehörde hatte in Kohls Fall viel Geduld bewiesen. Schon vor über einem halben Jahr wollte sie seine Akten veröffentlichen. Von vornherein nahm Behördenchefin Marianne Birthler dabei Informationen aus seinem Privatleben sowie mitgeschnittene Telefonate aus. Lediglich die zusammengefassten Aussagen abgehörter Telefonate will sie Forschern und Journalisten zugänglich machen. Kohl nahm damals das Recht in Anspruch, erst selbst alles lesen zu dürfen. Damit ließ er sich so viel Zeit, dass Birthler drohte, gegen seinen Willen die Akten herauszugeben. Daraufhin ging Kohl vor Gericht und Birthler versprach, das Urteil abzuwarten.

Ihre Geduld hat nun Folgen. Will sie die Akten doch veröffentlichen, muss sie in Berufung gehen. Sie hat noch nicht einmal die Möglichkeit, Unterlagen herauszugeben, die nur indirekt Kohl zum Thema haben, zum Beispiel Telefonate, in denen sich zwei andere Politiker über Kohl unterhalten. Denn das Gericht verbot auch die Herausgabe dieser Unterlagen. In der Pause gab sich ihr Sprecher Christian Boohs noch kämpferisch: „Es hat bislang nie Klagen gegen die Herausgabe der Akten Prominenter gegeben. Das zeigt doch, wir haben unsere Arbeit gut gemacht.“

Die Stasi-Aufklärungsbehörde sieht die Aufarbeitung des SED-Unrechts durch das Urteil nun nachhaltig erschwert. „Das Urteil steht im Gegensatz zu zehn Jahren Praxis“, sagte der Sprecher der Behörde. Er ließ zunächst offen, ob die Behörde in Berufung geht.