Blasphemie als Therapie

■ The Tiger Lillies treten mit neuer CD im Gepäck im Jungen Theater auf und starten böse Angriffe auf den guten Geschmack

Inzwischen verfügt das fulminante Trio durch alljährliche Auftritte auch in der Hansestadt über eine eingeschworene und wachsende Kultgemeinde. Und man kann es nur kultisch oder gar nicht verehren. Sie selbst beschreiben sich als „Akkordeon-getriebene Kastraten-Schnulzensänger und brecht'sches Blues-Trio“, und das ist eine ebenso erhellende wie irreführende Definition.

Was die Truppe um den Kopfstimmensänger Martyn Jacques auszeichnet, sind ein absolut rabenschwarzer Humor, der zu genial kruden Texten führt, eine freakige Bühnenpräsentation, ein wimmerndes Akkordeon und eine Musik, die Einflüsse von Tom Waits über Kurt Weill bis zu Jacques Brel verarbeitet und diese mit Blues, schleppenden Walzern oder polterigen Polkas vermengt.

Die Faszination der Tiger Lillies rührt von dem bizarren Widerspruch zwischen im Grunde eingängiger Musik und den kruden Balladentexten, wenn Jacques beispielsweise mit engelsgleicher Falsettstimme von Sodomie oder bluttriefenden Mordphantasien singt. Vor etwas mehr als zehn Jahren gründete der gebürtige Schweizer Martyn Jacques das seltsame Trio. Sein Falsettgesang steht im Zentrum, daneben spielt er Ackordeon. Bassist Adrian Stout und Schlagzeuger Adrian Huge sind nicht nur für den Rhythmus zuständig, sondern auch für abartige Spielereien mit aufblasbaren Gummitieren.

Im Gepäck haben die Tiger Lillies ihre gerade erschienene dritte CD „The Brothel To The Cemetery“, mit einer Reihe hitverdächtiger Titel. So das blasphemische „Banging in the Nails“, in dem ein durchgeknallter römischer Legionär die berühmtesten Nägel der Weltgeschichte einschlägt und dabei voller sadistischer Inbrunst vor sich hin jubiliert. Oder die melancholische Ballade über russische Markthändler in Frankfurt, die der vergangenen Größe ihrer Heimat nachtrauern. Gemein süßlich kommt auch die desillusionierte Abrechnung mit der Langeweile im himmlischen Paradies in „Heaven to Hell“ daher, mit Seitenhieben auf alles, was heilig ist. Harte Anfechtungen für jede, die guten Glaubens ist und Balsam für Menschen, die ihre dunklen Seiten lieber in Konzerten ausleben als Amok zu laufen. Insofern kann der Besuch eines Tiger-Lillies-Auftritts durchaus auch von therapeuthischem Nutzen sein. Arnaud

Heute, Donnerstag, und morgen um 20 Uhr im Jungen Theater, Güterbahnhof, Schuppen 22