Keine andere Wahl, als zu wählen

Schriften zu Zeitschriften: Das neue „Kursbuch“ macht einen Reigen auf von der Lebensliebe, den Spermienbanken und der olfaktorischen Damenwahl bis hin zu Traumhochzeiten, lesbischen Möwen und möglichen Ehe-Alternativen

Kinder statt Inder. So sprach ein ehemaliger Zukunftsminister, und der baldige bayerische Kanzlerkandidat sagt Ähnliches, nur geschmeidiger: „Das Geburtendefizit lösen wir nicht durch Zuwanderung.“ So stellt sich die CDU, nachdem sie in der Realität des (nicht „klassischen“) Einwanderungslandes angekommen ist, den Kontrapunkt zur sozialdemokratischen Bevölkerungspolitik vor. Einwanderung, na gut. Doch für die Rettung der Versicherungsgemeinschaft BRD braucht es noch etwas: eine andere Familienpolitik. Die Heterokleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft oder besser: als Brutstätte für Beitragszahler.

Ach, wenn das alles nur so einfach wäre! Alte Verbindlichkeiten sind dahin, und ob Paarungswillige sich wieder darauf verpflichten lassen werden, ist zumindest offen. Für die Wahl des Beziehungsmodells gilt heute das, was der britische Soziologe Anthony Giddens für alle anderen Bereiche der Lebensplanung ausgerufen hat: „Man hat keine Wahl, als zu wählen.“ Für welches Programm entscheidet man sich, für welche „Liebesordnung“? Das neue Kursbuch macht einen Reigen auf: von Lebensliebe, Spermienbanken und olfaktorischer Damenwahl wird da erzählt, von Traumhochzeiten, lesbischen Möwen und Ehe-Alternativen. Es sind diese Liebesordnungen, welche immer auch den Modus regeln, in dem eine Gesellschaft sich reproduziert. Nun sind also auch Rüttgers und Stoiber dahinter gekommen. Da ist was durcheinander geraten.

Biotechnologischer Fortschritt macht die Sache nicht einfacher. Weniger denn je ist Kinderwunsch ein Grund, sich den Widrigkeiten einer Beziehung auszuliefern. Nicht nur dass man Kinder alleine aufziehen kann. Jetzt kann man sie auch alleine machen, bald wohl mit ganz anderen Gestaltungsmöglichkeiten, als sie die bloße Wahl des Partners zu bieten hatte. Und der Staat macht mit: Ehevertrag, Kita und Teilzeitgesetze begleiten die Ankunft der Patchworkfamilie.

Dabei ist es nicht mal so, dass nicht mehr geheiratet wird. Wachsende Scheidungsraten korrelieren nicht mit einer sinkenden Zahl an Eheschließungen, der Hochzeitstag wird seit Anfang der 90er-Jahre zunehmend zu einem weihevollen Ritus stilisiert. Standesbeamte werden, wie der Soziologe Jo Reichertz aus seinen umfassenden Studien berichtet, im hessischen Bad Salzschlirf fortgebildet und in der „Durchführung einer zeitgemäßen, rituellen standesamtlichen Eheschließung“ unterwiesen. Neue Pracht im Standesamt, in feierlicher Ritenkonkurrenz zur kirchlichen Trauung – die „Katholisierung des Protestantismus“ gewissermaßen. Habermas hatte noch auf die „Versprachlichung des Sakralen“ hoffen können, nun ist da scheinbar nichts als Diskursmüdigkeit. Ist das Backlash? Negative Dialektik? Regression? Eher noch ist eine Vermischung von ritueller und kommunikativer Praxis zu beobachten, man müsste sich nur mal die Mühe machen und die Aufstellungen in mittäglichen Talkshows registrieren. Die nahe liegende Erklärung dieser Tendenz als Tribut an die Eventgesellschaft wischt Reichertz weg mit der Behauptung, es gehe in Zeiten „unsicherer Kontinuitätserwartung“ um die Steigerung der rituellen Bandstiftung, und seine an anderer Stelle veröffentlichten Befragungen von Kandidaten der RTL-„Traumhochzeit“ sind in der Tat erhellend. Wahrscheinlich ist doch aber beides richtig. Vor allem aber zeigt sich auch hier: Persönliche Beziehungen werden, wie alle anderen Projekte der Biografisierung auch, zu einem ästhetischen Projekt.

Eher noch als die Liebe selbst wurde Sexualität zum öffentlichen Thema. Stets ist der Körper disziplinatorischen Begehrlichkeiten ausgesetzt, daher hatte Sexualität den 68ern und anderen mehr Emanzipationspotenzial zu bieten als irgendein Gefühl, dessen Diskurs zudem durch Pseudo-Freud verstellt ist. Dass die Frage der Liebe von der Theorie schlecht vorbereitet sei, wie Ina Hartwig es in ihrem Beitrag behauptet, kann man allerdings nicht wirklich sagen. Hartwig bricht eine Lanze für die Liebe des Lebens: Die Liebe, so sagt sie mit Jacques Lacan, habe etwas mit der Abwesenheit des Geschlechterverhältnisses zu tun. „Das Gegenteil unserer schönen revolutionären Sexualtheorien könnte richtig sein: dass erst die Lebensliebe frei macht.“ Etwas weniger euphorisch geht Manfred Schneider die Sache an, sein Text über „Alternativen zur Ehe und über die Restsüße der Arterhaltung“ ist sicher der lesenswerteste Beitrag dieses Bandes. Das hat sich das kluge Tier Mensch fein ausgedacht mit der Monogamie als Notabsicherungsgemeinschaft. Nun gibt es heute aber kaum noch Nöte, nur Risiken, und da ist die Ehe keine Hilfe mehr. Sie ist selbst zum Risiko geworden.

Schneider rezensiert die Alternativen: Traumpaar, wilde Ehe, Kommune I, die Junggesellenmaschine. Das Konzept der Arbeit als einzige radikale Alternative zur Ehe bekommt gerade sein Update, die Biopolitik tritt in eine neue Phase ein. „Die neuen Kirchenväter sind die Reproduktionsmediziner. Das Kind, das für die alte Naturrechtslehre eine Pflicht war, ist heute ein Menschenrecht, und sein Erscheinen in der Welt muss dem Zufall entrissen werden.“ Prägnanter kann man die mit neuer Fortpflanzungstechnologie sich ankündigende Reformulierung des gesellschaftlichen Reproduktionsprogramms wohl kaum zusammenfassen.

Die Ehe wird wohl trotzdem überleben. Der steigende Bedarf an Zweckehen, von dem uns Hans-Georg Behr berichtet, wird die Zahl der Eheanbahnungen weiter stabil halten. Auch die „eingetragene Partnerschaft“ für Homosexuelle wird das Ihrige tun. Dass der Schwule nicht nur Sanktion sucht in der Ehe bürgerlichen Zuschnitts, davon erzählt Hans Pleschinski. Einer Single-Existenz gibt man dann Sinn, wenn man sich zum Volleyballspiel trifft, bei „Vorspiel Berlin“ oder „Wärmer Bremen“. Die gleichgeschlechtliche Welt formiert sich neu, „nur bei Gelegenheit ist man noch obsessiv“. Wie befreiend, nicht in jeder Sekunde verführerisch und sexy sein zu müssen. Und der Traum des schwulen Singles? „Zwei Rasierapparate im Badezimmer“. Kinder nicht ausgeschlossen.

SEBASTIAN HANDKE

Kursbuch Nr. 144 , Liebesordnungen, Rowohlt Verlag, Berlin 2001, 18 DM