Der Schweißer von Marzahn

Eine Kurzgeschichte von ANDREAS GLÄSER

3. Runde: Liebe begierd Liebe begierd Liebe begierd Liebe begierd Lie bebegierd Lie bebegierd

Neulich auf Arte: „20 Jahre Einstürzende Neubauten“. Mein Videorecorder war kaputt, dein Videorecorder war kaputt, sein Videorecorder war kaputt. Egal. Wir waren sowieso alle dabei. Während dieser Sendung sagte F. M. Einheit, der Schlagwerker: In der DDR durften wir nicht spielen. Für die Offiziellen waren wir Faschisten. Die meinten, einstürzende Neubauten gäbe es in der DDR nicht!

Ich saß so vor dem Fernseher und grinste. Nicht nur wegen diesem Faschistenhammer. Den fand ich immer lustig, solange er mich nicht traf. Aber auch aufgrund ihrer erdbebensicheren Neubauten. Anfang der Achtziger wohnte ich in Hohenschönhausen und arbeitete in Marzahn.

Kurz vor der Frühstückspause polterte es inmitten dieses sich im Aufbau befindenden Plattenparadieses. Wenige hundert Meter von mir entfernt stürzten einige Balkone nieder! Ein achtstöckiger Rohbau sollte bis zur Planerfüllung ein zehnstöckiger Neubau werden.

Am achten Stock wurde an der Balkonbrüstung herumgeschweißt. Aber nicht richtig. Der Fünfjahresplan ging vor. Ein Balkonboden stürzte eine Etage tiefer. Und so weiter. Bis zum dritten oder vierten Stockwerk. Viele Seitenteile flogen gleich hinterher. Marzahner Domino. Die höllischen Basstrommeln verstummten, nachdem die letzten Betonteile im lehmigen Erdboden gelandet waren. Zwei Arbeiter wurden geopfert.

Wenn ich manchmal zu Hause aus dem Fenster sah, dachte ich, dass die zeitgenössische Ostberliner Volksmusik wohl von den Einstürzenden Neubauten käme. Zu dieser Zeit gab es in Kreuzberg auch dieses „Atonal-Festival“. Das SFB-Fernsehen übertrug in einer Nacht vom Sonnabend zum Sonntag stundenlang Auftritte von den Notorischen Reflexen, der Tödlichen Doris, den Genialen Dilettanten, Einstürzenden Neubauten und so weiter.

Ich kann mich noch daran erinnern. Auf der Bühne saß eine ausgemergelte alte Frau mit freiem Oberkörper. Dazu spielte im Hintergrund irgendeine Formation ein Lied. Es hieß „Debüt“. Der Text ging ungefähr so: „. . . Ich bin das erste Mal im Fernsehen . . . Ich bin das erste Mal im Fernsehen . . . Ich bin das erste Mal im Fernsehen . . .“ Ja, das waren unsere Brüder und Schwestern!

Ihre Musik passte zu unserer Arbeit. Denn Arbeit war oft monoton. Im Winter konnten wir keine Postanlagen bauen, weil unser Beloruss nicht in den gefrorenen Boden kam. Deshalb sollten wir zwischen den umliegenden, schon bezogenen Häusern die weggeworfenen Weihnachtsbäume einsammeln, um sie im Baugraben zu verbrennen. Damit der Boden auftaute. Das dauerte bis zum Feierabend. In der Nacht fror dann aber der Boden erneut. Am folgenden Tag sollten wir wieder Weihnachtsbäume einsammeln. Also gingen wir zwischen den umliegenden, schon bezogenen Häusern zur Straßenbahnhaltestelle.

Leider kam im SFB-Fernsehen an einem Wochentag zur Mittagszeit keine zeitgenössische Berliner Volksmusik. Die folgenden zwei Jahrzehnte verliefen für die Neubauten so, wie die vergangenen zwei Jahrzehnte für die Neubauten verliefen. Wir waren alle dabei. Wir haben es alle auf Arte gesehen. Wir verewigten alles auf Video.

Im Mai 98 kaufte ich mir eine taz, weil mir die anderen Satirezeitungen zu teuer waren. Im Berlinteil wurde über Blixa Bargelds Temporäre CD-Brennerei berichtet. Davon war während dieses Arte-Rückblicks gar nicht die Rede, obwohl dieses Projekt für mich das Beste war, was aus dem Hause Bargeld in den Neunzigern kam. Über den Zeitraum von drei Wochen war er jeweils von Montag bis Sonnabend von 16 bis 19 Uhr am Werk.

Am drittletzten Tag wollte ich es genauer wissen. Wo befand sich diese Contemporary-Fine-Arts-Galerie? Wie viel kostete der Eintritt für ein Konzert in einer Temporären CD-Brennerei? Was für einen Zulauf würde es geben? War das Publikum handverlesen? Würden dort alle Besucher ihre Beerdigungssachen tragen? Wo war mein weißes Hemd?

Fragen über Fragen, die in der Sophienstraße beantwortet werden sollten. Gegen drei viertel vier fand ich mich auf einem der Hackeschen Höfe vor dieser Galerie wieder. Die Tür war verschlossen, die Fenster waren mit weißem Stoff verhangen. Außerdem war ich der Einzige! Schön, es waren sommerliche Temperaturen. Als Arbeitsbefreiter konnte man am Strand liegen oder im Straßencafé sitzen. Doch war der eine oder andere Arbeitsbefreite in seiner Freizeit nicht insgeheim ein Kunstpatient? Ein Klingelknopf wollte von mir gedrückt werden. Jemand öffnete die Tür für drei Sekunden. Nur einen Spaltbreit. Freundlich, aber bestimmt sagte er: 16 Uhr. Ich antwortete: Drei viertel. Was war das? Ich ging ein Eis essen und kehrte aus Protest erst gegen viertel fünf zurück. Die Tür war nicht mehr verschlossen. Ich trat ein. Der Galerist wollte kein Eintrittsgeld. Inzwischen war Blixas Stimme zu hören. Rhythmischer Singsang. Immer dasselbe: Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . .

In dieser Galerie verloren sich drei, vier, fünf Leute. Alle wirkten ein wenig befangen und setzten ziellos einen Fuß vor den anderen. Oder auch mal umgekehrt. Tipp-topp. Topp-tipp. Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . .Tipp-topp. Topp-tipp. Im Raum standen auf fünf weißen Säulen viele schwarze technische Geräte. Viele bunte Kabel hingen kurz unter der Decke. Ein schöner Holztisch, den ich gerne hätte, lud zum Beinedrauflegen ein. Ooops! Da stand Blixa, der Schweißer von Marzahn! Sollten wir uns grüßen? War er aufgrund meiner einschüchternden Weltliteratur ein wenig befangen?

Ich grinste ihn verstohlen an. Er nickte fast unmerklich. Alles in Ordnung. Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . . Warteschlaufe . . . Es handelte sich nicht um ein Konzert. Ich befand mich in einem Labor, in dem CDs gebrannt wurden. Auf einer Endlosschleife nach der anderen wurden verschiedene Wörter oder Halbsätze verewigt. Jede dieser Endlosschleifen legte sich auf die vorangegangenen Endlosschleifen. Alles lief zeitgleich, war aber in unterschiedlichen Abständen zu hören.

Im Laufe dieser drei Wochen schickte Blixa viele Wörter in den Boxring, um sie im K.-o.-System gegeneinander kämpfen zu lassen. Ich schätze mal, dass er mit dem Achtelfinale begonnen hatte. An diesem Tag traf die „Liebe“ auf die „Begierde“! 1. Runde: Liebe schlägt sehr sanft zu . . . Liebe schlägt sehr sanft zu . . . Liebe schlägt sehr sanft zu . . . Liebe schlägt sehr sanft zu . . . Liebe gegen Begierde . . . Liebe gegen Begierde . . . Liebe gegen Begierde. 2. Runde: TCH . . . tchtchtch . . . tchtchtch... tchtchtch . . . TCH . . . tchtch . . . tchtchtch . . . tchtchtch . . . TCH.

Schließlich fanden sich mehrere Silben des einen Wortes im anderen Wort wieder. 3. Runde: Liebe begierd Liebe begierd Liebe begierd Liebe begierd Lie bebegierd Lie bebegierd. Zur Krönung schrie er noch sehr schön. Viele Klanggebilde wurden mit rhythmischem Kreischen, Jaulen, Röcheln und Schreien durchsetzt! Um ein jeweils 10- bis 20-minütiges Lied zu beenden, wurde es mittels „Bremspedal“ abgehackt! Also, ich wusste nicht wie das hieß, womit er ein Dutzend Endlosschleifen erst stockend abbremste und schließlich völlig stoppte. Jedenfalls hörten wir am Ende dieses Boxkampfs mehr oder weniger zufällig die Endlosschleife „Liebe“. Womit der Sieger dieser Viertelfinalpaarung feststand. Liebe, Begierde, Neugier, Hass, Lust, Staunen . . .

Es war eine Riesensampelei! Total laut! Inzwischen trudelten noch einige Besucher ein. Die meisten lehnten sich verstohlen an die Heizung oder an die eine Wand, an die Blixa viele Zetteleien heftete. Alles darauf wurde am Tisch flüchtig hingekritzelt. Also ziemlich unleserlich. Wir bewunderten ihn sowohl für seine „Polizeikatzen“ als auch für seine „abgedroschenen Schlangen“.

Alle wirkten befangen und setzten ziellos einen Fuß vor den anderen. Oder auch mal umgekehrt.

Die Besucher registrierten überrascht, dass ich Selters trank und Kekse aß. Otto Sander ließ Heiner Müller entschuldigen. Blixa plauderte seinen wissenschaftlichen Versuch an, bei dem es darum ging, Engel zu erzeugen. Wahrscheinlich wollte er sagen, wovon es abhing, ob ein Mensch männlich oder weiblich zur Welt kam. Sein Physiologievortrag kam ein wenig ins Schlingern. Deshalb fragte er in die Runde, ob das so allgemein verstanden wurde. Schweigen. Wir waren alle Schulversager.

Mir rutschte raus: Jaja, is schon klar. Deshalb fragte er, ob ich das erklären könne. Nein. Alle zeigten sich erheitert. Hatte ich das Eis gebrochen? Blixa betrank sich mit Schampoo-Schaum.

In den folgenden Stunden produzierte er solche Lieder wie „Pelikanol“. Diesen 18-Minuten-Bonus der „Silence is sexy“-CD. In diesen drei Wochen laborierte er grob geschätzt an 60 CDs! Es ging oft um Physiologie, Astrologie et cetera pp. Einmal versuchte er den Zustand zu erreichen, dass ihm nichts mehr einfiel: . . . ich glaube, das war’s glaube ich glaube das wars glaube ich glaube das wars glaube ich . . .

Ein Besucher erfuhr vom Galeristen, dass man diese Laborberichte, die jeweils vier CDs und ein Buch umfassten, für jeweils 2.000 Mark kaufen konnte. Ein gerechtfertigter Preis, wie ich fand. Nur wusste ich nicht, ob mein Arbeitsamt die Kosten übernehmen würde. Es war ein Ereignis! Relativ entspannte Stimmung, trallalla. Blixa plauderte seine Lieder an. Meistens fragte niemand hochachtungslos dazwischen. Am letzten Tag stand das Finale des Boxkampfes an. „Liebe“ gegen . . .??? Ich habe es vergessen. Verzeihung.

Inzwischen schlenderten einige Kunstpatienten aus alten „Atonal“-Tagen rein. Sie schwiegen wichtig. Als Blixa irgendwas sagte und ich darauf etwas erwiderte, schienen sich einige zu fragen, ob sie mich kennen müssten. Jedenfalls war ich gegen die „Liebe“, weil die schweigende Mehrheit dafür war. Natürlich gewann die „Liebe“. Alle jubelten. Dann sollte es wohl noch ein Besäufnis geben. Ich brauchte frische Luft.