Kanzler Kohl als Briefträger

Auch beim Verkauf eines Caprolactam-Werkes 1993 in Leuna war Helmut Kohl nicht unbeteiligt. Wie im Fall Elf Aquitaine fehlen auch hier Akten

von PETER HILLEBRAND

Helmut Kohl hat sich als Bundeskanzler nicht nur beim Verkauf der Raffinerie des Leuna-Werkes an die französische Elf Aquitaine eingemischt. Nach Recherchen der taz und des Wiesbadener Kuriers war der damalige Kanzler auch am Verkauf eines anderen bedeutenden Produktionsbereichs des Chemiekombinats nicht unbeteiligt – des Caprolactam-Werkes in Leuna, das zu DDR-Zeiten lukrative, Devisen bringende Geschäfte gemacht hatte. Die Akten über den Verkauf lagerten zu Kohls Zeiten noch im Bundeskanzleramt. Heute fehlen sie. Sie stehen, wie schon die Unterlagen über den Verkauf der Raffinerie, auf der Liste von Dokumenten, nach welchen Burkhard Hirsch im Auftrag der Bundesregierung suchen soll – jene Akten, die im Zuge des Regierungswechsels 1998 verschwunden sind.

Die Treuhand hatte das Chemiekombinat Leuna Anfang der 90er-Jahre aufgeteilt, um jeden Teil einzeln zu privatisieren. So war die Raffinerie zusammen mit dem Minol-Tankstellennetz an den französischen Konzern Elf Aquitaine gegangen. Nicht ausgeschlossen ist, dass dabei Schmiergeld gezahlt wurde.

Für den Teilbereich der Caprolactam-Produktion hatte seinerzeit der amerikanische Konzern Allied Signal ein Angebot vorgelegt. Die Amerikaner teilen sich mit der BASF den Weltmarkt für Caprolactam, ein Vorprodukt von Nylon, das unter anderem bei der Produktion von Teppichböden verwendet wird. Gegen die Amerikaner hatte der belgische Teppichbodenhersteller Domo geboten. Nach Informationen der taz präferierte die Treuhand Allied Signal.

Mit einer Niederlage wollten sich die Belgier nicht abfinden. Für sie intervenierte der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) und ehemalige Ministerpräsident von Belgien, Wilfried Martens, beim deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl. In der EVP sind die europäischen konservativen Parteien zusammengeschlossen, darunter CDU und CSU. Martens setzte sich im April und Mai 1993 schriftlich und telefonisch bei Kohl für das in Familienbesitz befindliche belgische Unternehmen ein. Das Bundeskanzleramt leitete Martens’ Schreiben korrekt an die für die Privatisierung allein zuständige Treuhand weiter und teilte Martens dies auch mit. Ein halbes Jahr später erhielt Domo den Zuschlag. Das geht aus einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums hervor – dem letzten Vorgang in dieser unvollständigen Akte. Jetzt hieß es, mit Domo, dem Familienunternehmen, sei eine gute Zusammenarbeit zu erwarten. Man stimme einer Investitionsbeihilfe von 1 Million Mark pro garantiertem Arbeitsplatz zu.

Das Bundeskanzleramt weiß um die Merkwürdigkeiten dieses Geschäfts. Bei der Suche nach verschwundenen Akten im Bundeskanzleramt sei Burkhard Hirsch auf Unterlagen gestoßen, die belegten, dass Martens mehrmals bei Kohl intervenierte, bestätigte Thomas Steinberg vom Bundepresseamt. Da die Caprolactam-Produktion der bedeutendste Geschäftsbereich der Leuna-Werke gewesen sei, habe es nahe gelegen, diesen Bereich in die Untersuchung über die Privatisierung der Leuna-Werke einzubeziehen. „Mit den vorhandenen Akten lässt sich aber der Vorgang nicht lückenlos rekonstruieren“, sagte Steinberg, „weil sie nicht vollständig zu sein scheinen“. Im Kanzleramt und den zuständigen Ministerien sei deshalb eine intensive Suche nach den fehlenden Akten im Gang.

Die Investition in Leuna sicherte dem belgischen Unternehmen die Eigenversorgung mit dem Ausgangsstoff Caprolactam für seine eigene Faser- und Teppichbodenherstellung. Domo Caproleuna ist heute einer der größten Investoren am Chemiestandort Leuna. Auf einer Rangliste der 100 umsatzstärksten Unternehmen in Ostdeutschland ist das belgische Unternehmen mit seinen 442 Mitarbeitern 1999 auf Platz 48 vorgerückt.

Seit einigen Wochen prüft die Staatsanwaltschaft Magdeburg, ob sie im Zusammenhang mit dem Leuna-Komplex Ermittlungen wegen Schmiergeldzahlungen und Subventionsbetrug aufnimmt. Anlass dafür sind neue Erkenntnisse der so genannten Leuna-Task-Force des Bundesfinanzministeriums. Nach Informationen von taz und Wiesbadener Kurier prüft die Task Force derzeit auch, ob es beim Aufbau der InfraLeuna, an der ebenfalls die belgische Domo beteiligt ist, Subventionsbetrug gegeben hat. InfraLeuna liefert unter anderem Strom, Gas und Wasser für die in Leuna angesiedelten Chemiefirmen. Insgesamt wurden für den Aufbau dieser Infrastrukturgesellschaft 1,03 Milliarden Mark an Subventionen gezahlt.

Die Task Force geht davon aus, dass die Kosten für den Aufbau der Industrieanlagen insbesondere durch überzogene Beraterhonorare künstlich in die Höhe getrieben wurden. Die internen Ermittlungen konzentrieren sich deshalb auf die von der Treuhand beauftragten Unternehmensberater. Übrigens nicht zum ersten Mal: Bereits im Spätsommer vergangenen Jahres hatte die Berliner Staatsanwaltschaft im Rahmen von Vorermittlungen die Geschäftsräume einer in Leuna tätigen Beraterfirma durchsucht.

Damit ist auch ein vom Land Brandenburg unterstütztes Projekt ins Visier der Task Force geraten. Denn ein von der Beraterfirma entwickeltes Subventionsmodell für das brandenburgische Schwedt könnte im Kern auf Subventionsbetrug hinauslaufen. Auch dabei geht es um eine Anlage zur Produktion von Caprolactam, für die abermals der in Leuna abgewiesene Investor Allied Signal in Betracht kam.

Die mit der Standortentwicklung beauftragten Berater hatten Beihilfen aus öffentlichen Mitteln in Höhe von 50 Prozent der Investitionssumme in Aussicht gestellt. Das ist ein Fördersatz, der nur für kleine und mittlere Betriebe gilt. Großinvestoren dagegen dürfen nach EU-Regeln nur mit maximal 35 Prozent der Investitionen aus öffentlichen Mitteln gefördert werden. Um aber in den Genuss des 50-prozentigen Fördersatzes zu kommen, teilten die Berater das Projekt auf dem Papier in kleinere Einheiten auf und gründeten selbst sogleich die „Zulieferfirmen“. Allied Signal zog sich aber aus dem Projekt zurück. Und auch mit dem neuen Investor Bonazzi kommt die Ansiedlung in Schwedt nicht voran. Die EU-Kommission hat das möglicherweise betrügerische Subventionsmodell durchschaut und dem Land Brandenburg deutlich gemacht, dass eine Aufsplittung zwecks Optimierung der Beihilfe nicht akzeptiert wird. Das Wirtschaftsministerium von Brandenburg geht davon aus, dass Bonazzi auch bei einer Subvention von 35 Prozent zu seinem Vorhaben steht. Im Ministerium liegt bisher nur ein „Entwurf eines Antrags“ vor.