Missverständnis „Integration“

ZUWANDERUNG (5): Selbst CDU und CSU haben die Notwendigkeit der Einwanderung akzeptiert – ein Paradigmenwechsel. Allerdings ist das Konzept „Leitkultur“ naiv

Werte sind bei der Integration nicht so wichtig wie Kommunikation: etwa über den Beruf oder Sex

Die deutsche Wahlbevölkerung will keine Immigration. Allensbach hat es an den Tag gebracht: Außer den Wählern der Grünen sind die Anhänger der großen Volksparteien gegen Einwanderung – die PDS muss sogar einräumen, dass ihre Wähler Zuwanderung besonders stark ablehnen. Dort hat der völkische Bodensatz der alten DDR-Menschengemeinschaft tiefe Spuren hinterlassen. Wenn überhaupt, so erfahren wir, soll ein Einwanderungsgesetz nach dem Willen der meisten Deutschen vor allem die Einwanderung begrenzen.

Gleichwohl ist mit den Vorschlägen der CDU-Kommission zur Einwanderung, auch wenn die Partei bei Familienzusammenführung und „Asylmissbrauch“ nachträglich noch verschärfend eingegriffen hat, eine Jahrzehnte alte Lebenslüge dieser Republik kurz und bündig kassiert worden. Dabei meine niemand, dass sich dies einem christlichen Menschenbild oder gar katholischem Universalismus verdanke. CDU und CSU sind bei aller gegenwärtigen Verwirrung professionelle Parteien, die noch stets das, was im Namen des so genannten übergeordneten nationalen Interesses zu geschehen hatte, früher oder später entweder initiiert oder nachvollzogen haben: von der Westintegration über die dynamische Rentenformel, die nach langen Krämpfen endlich akzeptierten Ostverträge bis eben zur Einwanderungspolitik.

CDU und CSU, bei allem Gerede vom christlichen Menschenbild doch nur wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Sicherheit verpflichtet, konnten sich den Realitäten nicht mehr verschließen. BDI und DIHT haben es ihr ebenso eingehämmert wie die eigenen Rentenpolitiker: relativer Wohlstand, Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt und soziale Sicherheit sind ohne massive Einwanderung nicht zu haben. Die Wählerklientel will dieser Einsicht zwar nicht folgen, weil sie – aber wer kann das schon wirklich – nicht in langfristigen und die eigenen unmittelbaren Interessen überschreitenden Perspektiven zu denken vermag. Das war bei der Auseinandersetzung um die Atomkraft und das Plutonium nicht anders, als es jetzt bei Fragen der Gentechnologie ist.

Die von der Wissenschaft immer wieder angemahnte Einsicht in die „Trägheit“ demografischer Prozesse, in den Umstand also, dass Kinder, die heute nicht geboren werden, übermorgen keine Enkel zeugen können, scheint ob der langen, sich über Jahrzehnte erstreckenden Zeiträume dieser Entwicklungen nicht fassbar zu sein. Diese nüchternen Umstände zu erläutern, bedarf es einer mehr oder minder wohl dosierten Portion Rassismus: bei der CDU und CSU mit ihrer wiederkehrenden Asylmissbrauchsrhetorik; bei der SPD mit einem entschlossenen Schweigen zu allem, was Anstoß erregen könnte, auch wenn dies mit humanitären Floskeln wie dem „Vorrang der Integration“ versehen wird. Gleichwohl hat sich die Debatte bei aller Ideologieträchtigkeit grundsätzlich verändert.

Die Notwendigkeit von Zuwanderung und „Integration“ wird akzeptiert. Doch ist damit das richtige Konzept verbunden? Die Soziologie unterscheidet zwischen Systemintegration und Sozialintegration. Ins System integriert ist, wer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, die Wege des Rechtswesens nutzen kann, seine Kinder zur Schule schickt und sich eventuell an Wahlen beteiligt, ansonsten seine Steuern zahlt und die Gesetze einhält. Sozial integriert ist, wer ein Familienleben führt, Freunde hat und in Vereinen Mitglied wird. Darüber hinaus tragen zumal Politiker immer wieder die naive Ansicht vor, integriert sei, wer einem der vielen Normen- und Wertemuster anhänge – vom Verfassungspatriotismus über das christlich-abendländische Weltbild bis hin zu Prinzipien der Aufklärung oder sozialistischen Überzeugungen. Die heftige „Leitkultur“-Debatte, deretwegen sich CDU und CSU zu Recht einen bemäntelten Chauvinismus vorwerfen lassen mussten, war also eine Debatte um die Sozialintegration.

Naiv ist die Debatte um eine „Leitkultur“ oder eben um „Integration“ deshalb, weil sie von der Überzeugung getragen wird, dass das, was ein so unendlich komplexes Gebilde wie eine Gesellschaft zusammenhält, Normen und Werte seien – und nicht die alltägliche Kommunikation über Interessen in Beruf, Bildung, Ehe und Familie, Kommerz und Industrie, Freizeit und Sexualität.

Gewiss sind Verhaltenserwartungen von unterschiedlichsten Normen geprägt – von Sanktionsdrohungen über grammatische Regeln, Höflichkeitskodices, Gesetze bis hin zu religiösen Überzeugungen. Wer aber meint, dass etwa die hochabstrakten, von den meisten Politikern nicht wirklich verstandenen Prinzipien des Grundgesetzes die Gesellschaft der Bundesrepublik zusammenhalten, der verwechselt diese mit einer Parteiversammlung oder einem Gottesdienst. Zudem: Wie homogen sind wohl die Wertüberzeugungen der Mitglieder einer Partei oder einer Kirche wirklich?

Erstaunlicherweise haben CDU und CSU hier schließlich den richtigen Weg gefunden, indem sie – gegen ihre Paten von BDI und DIHT – nach holländischem Vorbild auf einer Verpflichtung der Immigranten beharren, Deutsch zu lernen. Eine wesentliche Kommunikationsform – neben der sprachfreien Kommunikation über Geld –, die die Gesellschaft zusammenhält, ist eben die der Sprechsprache. Im Berufsleben zu stehen, zur Schule zu gehen, an politischen Handlungen zu partizipieren, all dies wird umso leichter fallen, je eher die Einzelnen die geltende Amts- und Verkehrssprache beherrschen. Immigranten sollten Deutsch sprechen – nicht weil Deutsch wertvoller, tiefer oder nuancierter wäre als irgendeine andere Sprache, sondern weil es sich beim Deutschen aus rein historischen Gründen hierzulande um die faktische Verkehrssprache handelt.

CDU und CSU beharren durchaus zuRecht darauf, dassZuwanderer Deutschlernen sollen

Man mag aus ökonomischen oder sonstigen Gründen der Meinung sein, dass es unklug ist, dringend benötigten Immigranten diese Forderung aufzubürden – unmoralisch ist es nicht. Denn Immigranten sind – anders als Flüchtlinge – Privatpersonen, die mit dem Land, in das sie einwandern, gleichsam einen Vertrag schließen. Jeder Staat ist aus Gründen der allgemeinen Moral und des humanitären Völkerrechts verpflichtet, Verfolgte und Flüchtlinge aufzunehmen – hier entfällt die Frage von Aufnahmebedingungen. Kein Staat ist indes moralisch verpflichtet, privat interessierte Immigranten hineinzulassen. Tut er es, steht es ihm frei, die Bedingungen festzulegen.

Eine Sprache indes ist kein Wertesystem, sondern eine Form, in der – wenn denn nötig – über Werte kommuniziert werden kann. Eine liberale Gesellschaft wird hierzu niemanden zwingen. Allem Gerede über „Integration“ und „Leitkultur“ voraus muss mithin die Forderung gehen, sich daran, wenn gewollt und gesollt, beteiligen zu können. Ohne Sprachkenntnisse dürfte dies kaum möglich sein. Insofern ist es sehr bedauerlich, dass Finanzminister Eichel die Bundesmittel für Sprachkurse nicht erhöhen und damit real kürzen will. MICHA BRUMLIK