Im Zweitwagen zur Gurkenernte

In der Kornkammer des k. u. k. Reiches hat sich seit 1989 viel Industrie angesiedelt. Doch die Stechuhr ist für so manchen Ungarn immer noch ein Problem

aus Jánossomorja RALF LEONHARD

Die Grenzkaserne ist verfallen. Wo einst der verminte Todesstreifen die Flucht in den Westen vereiteln sollte, wuchern Unkraut und Weizen. Radfahrer und Fußgänger sind die Einzigen, die den Übergang zwischen Jánossomorja und Andau benutzen dürfen. Daher ist der Grenzraum zu einem großen Parkplatz geworden. Auf der ungarischen Seite stehen teure Westwagen, auf der österreichischen Trabis und Ladas. Es sind die Zweitwagen der Ungarn, die im Burgenland arbeiten. „Einen Zweitwagen brauchen wir, denn mit dem Auto dürfen wir nur während der Kirmes die Grenze überqueren“, sagt Zoltan Fettik. Der 48-Jährige war als Lehrling drei Jahre auf einer Werft in Rostock. Als 1989 der Eiserne Vorhang demontiert wurde, hatte er einen enormen Startvorteil. Schon nach wenigen Monaten wurde er von einem expandierenden Landmaschinenwerk in Niederösterreich angeheuert.

Jánossomorja, eine Gemeinde von 6.200 Einwohnern, entstand während der realsozialistischen Zeit durch die Zusammenlegung von drei Dörfern. Mosonszentpéter und Mosonszentjános waren deutsch besiedelt und hießen früher St. Peter und St. Johann, Pusztasomorja war ungarisch. Aus diesen Namen hat man den neuen zusammengemixt. Die Deutschen wurden nach 1946 „umgesiedelt“. Vor allem nach Baden-Württemberg und Bayern, denn die meisten waren Schwaben, deren Ahnen nach der Entvölkerung des Landstrichs durch die Türkenkriege hier sesshaft geworden waren.

Probleme mit Reparationsansprüchen der Deutschen gebe es nicht, versichert Bürgermeister Károly Kurunczi, ein Tierarzt, der schon die zweite Amtsperiode absolviert. In einer zwischenstaatlichen Regelung gleich nach der Wende wurden die enteigneten Familien pauschal abgefunden. Doch im Sommer, „da kommen ganze Busladungen aus Stuttgart“, weiß Zoltan Fettik. Viele stehen dann vor ihrem ehemaligen Haus und werden sentimental.

Seit der Öffnung hat sich viel getan in Jánossomorja. Rund sechs Prozent des zur Gemeinde gehörigen Ackerlandes sind von burgenländischen Bauern aufgekauft worden, von denen einige so nahe wohnen, dass sie mit dem Mähdrescher von den Äckern auf der österreichischen Seite über die Grenze fahren können. Bürgermeister Kurunczi schätzt sogar, dass inzwischen ein Fünftel der Nutzfläche von Fremden kontrolliert wird. Autos mit Wiener Kennzeichen vor manchem Häuschen zeigen, dass Westungarn wieder zum erweiterten Naherholungsgebiet der Hauptstädter gehört. In weniger als zwei Stunden können sie hier sein.

Aber nicht jeder Neubau gehört Ausländern. Zoltan Fettik ist einer von vielen Ungarn, die ihre Ersparnisse in ein Eigenheim gesteckt haben. Wer in Schilling verdient und in Forint zahlt, genießt einen beneidenswerten Lebensstandard. Zoltan nahm vor 20 Jahren einen Kredit von 220.000 Forint auf, als der Schilling noch 1:2 gewechselt wurde. Inzwischen steht der Kurs bei 1:17. Die letzten Raten waren so gut wie geschenkt.

Westungarn ist der dynamischste Wirtschaftsraum des Landes. Gleich nach der Grenze weisen riesige Schilder auf das „Shopping Center“ von Hégyeshalom hin. Bei der Autobahnabfahrt Györ steht ein klotziger Metro-Markt. Daneben hat sich Baumax ausgebreitet, und die britische Tesco Corporation stellt einen Hypermarkt, ein gigantisches Einkaufsparadies, auf die Wiese. Die Ungarn kaufen ganz selbstverständlich bei Billa, Spar oder Plus Markt.

In Jánossomorja ist das Pflasterstein- und Zementwerk Leier einer der größten Arbeitgeber. Die Angestellten und Arbeiter sind praktisch alle Einheimische, wie Geschäftsführer György Katona stolz bemerkt, und die Produktion ist für den ungarischen Markt bestimmt. Am Anfang gab es noch Probleme mit Mentalität und Arbeitsdisziplin. Viele der Arbeiter wollten nicht verstehen, dass sie sich jeden Tag pünktlich um zehn vor sechs in der Fabrik einzufinden hatten. Und als Katona im ersten Sommer plötzlich eine leere Werkshalle vorfand, erklärte ihm eine unschuldig blickende Arbeiterin: „Die sind alle in Andau zur Gurkenernte.“

Der Chef, Michael Leier, ist einer der Pioniere der grenzüberschreitenden Wirtschaft. Vom burgenländischen Horitschon, nur wenige Kilometer von der Großstadt Sopron (Ödenburg) entfernt, aber damals jenseits des Eisernen Vorhangs, begann er schon vor 18 Jahren, diesen Vorhang durchlässiger zu machen: „Wir lagen im toten Eck, und für uns in der Baustoffbranche war es wichtig, größer zu werden und in Ungarn ein Werk zu errichten.“ In der Zeit von Visumpflicht und Devisenkontrolle war das nicht so einfach. Doch über private Kontakte drang Leier bis zu Regierungskreisen vor und durfte ein Pilotprojekt errichten. Anfangs behielt der Staat eine Mehrheit von 51 Prozent, dann durfte Leier, der mittlerweile ungarischer Honorarkonsul im Burgenland ist, sukzessive aufstocken. Und 1988 war er Alleineigner: „Das war hier Gulaschkommunismus. Die Ungarn waren nie so streng wie in Ostdeutschland.“ Der Nachholbedarf, so Konsul Leier, war gigantisch: „Die kamen mit dem Pferdefuhrwerk und haben die Steine abgeholt.“

Jetzt macht Leier mehr als die Hälfte seines Gesamtumsatzes in Ungarn. In Györ, das auf alten Karten noch als Raab eingetragen ist, hat er sein Zweitbüro, die Vertretung für Skoda und Fiat gehört ihm ebenso wie ein Business Hotel in Gönyü an der Donau. Das wird offenbar gebraucht, denn als Unternehmer ist Konsul Leier längst nicht mehr allein: „Seit sechs, sieben Jahren sind viele westliche Firmen hier. Der Markt ist genauso umkämpft wie im Westen.“ Was ihm Sorgen bereitet, ist die Ausbreitung von monopolistischen Unternehmen, die schnell expandieren und die lokalen Kleinunternehmen verdrängen.

Durch den Eintritt Ungarns in die EU wird sich nicht mehr viel verändern, meint Michael Leier: „Auf 90 Prozent der Waren wird schon jetzt kein Zoll mehr erhoben. Nur die Umweltbelastung wird sinken. Denn jetzt stehen sie noch einen halben Tag an der Grenze, um den Papierkram zu erledigen.“ Eine „Überflutung“ Österreichs mit billigen Arbeitskräften erwartet er nicht: „Es gelingt uns nicht einmal, Leute aus Ostungarn hierher zu bringen, obwohl sie das Doppelte verdienen würden.“ Die Mobilität sei gering. Schließlich hängen die Menschen an ihrer Familie, ihrem Garten und oft einem Zweitjob, der ihnen das entscheidende Zubrot bringt. In Westungarn gibt es bereits jetzt Arbeitskräftemangel.

Angst vor den Ungarn hat man auch auf der anderen Seite nicht. Pamhagen liegt direkt an der Grenze, nur wenig vom Ostufer des Neusiedler Sees entfernt. Um vom so genannten Seewinkel in die burgenländische Landeshauptstadt Eisenstadt zu gelangen, musste man vor 1989 um den ganzen See herumfahren, denn das kleine Südufer ist ungarisch. Wollte man von Pamhagen in das in Luftlinie 20 Kilometer entfernte Deutschkreuz, so musste man einen Umweg von 100 Kilometern machen. Jetzt fährt man einfach über das „ungarische Eck“. In den letzten Jahren hat der Seewinkel einen sichtbaren Aufschwung erfahren. Nicht nur als Ziel-1-Gebiet für EU-Förderungen, sondern vor allem durch die Öffnung der Grenze. Von Pamhagen bis Andau erstrecken sich Hunderte Hektar Gemüseäcker. Unter Plastikdächern oder unter freiem Himmel reifen dort Tomaten und Paprika, Erdbeeren und Gurken. „Ich weiß nicht, was der Seewinkel ohne die ungarischen Erntehelfer machen würde“, sagt Konsul Leier, der selbst in Pamhagen geboren wurde. Lorenz Weinzetl, der beim Heurigen „Hofa Toni“ über einem Achtel Welschriesling sitzt, sieht das genauso. Gerade war er mit dem Fahrrad „drüben“, um ein paar Erntearbeiter anzuwerben. Er hat sein ganzes aktives Leben an der ungarischen Grenze verbracht: als Zöllner. Zuerst hier in Pamhagen, bis 1949 der Eiserne Vorhang hochgezogen wurde. Als der Übergang dicht gemacht wurde, versetzte man Weinzetl nach Deutschkreuz, wo er die Flüchtlingswelle nach dem Aufstand 1956 erlebte. Eine Gruppe bewaffneter Studenten hat er entwaffnet. Und als der Zaun im August 1989 demontiert wurde, war er mit seinen damals 68 Jahren auch dabei. Die Grenze, ein Produkt der Verträge von Trianon 1919, sei künstlich und unsinnig. Familien wurden getrennt. Beziehungen zur anderen Seite hat man trotzdem weiter gepflegt.

Pamhagen erlebt aber auch einen Boom des Tourismus. Und auch dies wäre ohne ungarische Arbeitskräfte nicht möglich. Die meisten Radler übernachten hier, bevor sie eine Tagestour nach Ungarn unternehmen. Die meisten ungarischen Gastwirte können Deutsch. Selbst während der kommunistischen Zeit wurde an der Gastronomieschule in Sopron die Sprache der Nachbarn unterrichtet. Sprachkundig sind auch die Angestellten der Legionen an Friseur- und Kosmetiksalons, die im Grenzbereich mit günstigen Preisen locken. Über Nacht bleiben aber die wenigsten Touristen. Bürgermeister Károly Kurunczi von Jánossomorja will das ändern. Er träumt von einem Urlauberparadies, das mit Badeteichen und Golfplatz um eine aufgelassene Schottergrube entstehen soll.