Algerien in den Zeiten der Revolte

Weder Regierung noch Opposition in Algerien wissen, wie sie mit der Rebellion der unzufriedenen Jugend umgehen sollen. Die Straßenschlachten nach der Massendemonstration in Algier am Donnerstag offenbaren das Ausmaß der Krise des Landes

von REINER WANDLER

„Wir haben das Schlimmste verhindert“, lobte der Generalsekretär des algerischen Innenministeriums, Mohammed Guendil, den Einsatz seiner Polizeikräfte gegen die größte Demonstration, die Algerien je gesehen hat. Die Bilder aus Algier sprechen eine andere Sprache: Bei den Ausschreitungen am Donnerstagnachmittag wurden nach Angaben des hauptstädtischen Krankenhauses 168 Menschen teils schwer verletzt, als die Polizei Demonstranten jagte. Zwei Journalisten verloren ihr Leben. Fadila Nedjma, Reporterin der algerischen Wochenzeitung Al Chourouk, wurde von einem Bus überrollt. Ihr Kollege Adel Zerrouk von der in Oran erscheinenden Tageszeitung Errai wurde von der Menge zu Tode getrampelt, die panisch vor den Tränengaseinsätzen der Polizei floh.

Gestern, einen Tag nach dem Abzug der 1,5 Millionen Demonstranten aus Algier, begannen die Aufräumarbeiten. Dutzende ausgebrannter Fahrzeuge, die die Demonstranten am Donnerstag vom Gelände eines koreanischen Automobilhändlers entwendet und in Brand gesteckt hatten, wurden abgeschleppt. Die Straßen rund um den Platz des 1. Mai, wo es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war, wurden von Steinen und abgebrannten Barrikaden gereinigt. Im kommunalen Busdepot überstand keines der Fahrzeuge in der Halle den Brand, den wütende Jugendliche gelegt hatten. Im Hafen von Algier bietet sich ein Bild der Verwüstung. Die Demonstranten und die Bewohner der anliegenden Stadtteile plünderten die Lagerhallen, bevor auch hier das Feuer sein Werk verrichtete.

Trotz der zurückgekehrten Ruhe stellten sich gestern viele Algerier die Frage: „Wie weiter?“ Nach zehn Jahren Konflikt mit bewaffneten Islamisten, der 150.000 Menschen das Leben kostete, scheint das Land an den Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein. Die Parolen der meist jugendlichen Demonstranten gleichen denen der Anhänger der Islamischen Heilsfront (FIS) vor zehn Jahren, bevor sie verboten wurde und in den Untergrund ging. Es geht um Unterdrückung, soziale Ungerechtigkeit und die Korruption, die einige wenige auf Kosten der nationalen Erdöl- und Erdgasresourcen immer reicher werden lässt, während die restliche Bevölkerung verarmt.

Bettelnde Kinder und sich prostituierende Jugendliche gehören längst zum Straßenbild der algerischen Hauptstadt. Rund um Algier wachsen die Slums. Selbst auf der hauptstädtischen Müllkippe suchen Menschen nach Ess- oder Verkaufbarem. Diese Bilder schockieren die Algerier, die einst besser lebten als das restliche Afrika.

Boumediennes Einparteiensystem zerfiel 1988 nach einer Jugendrevolte, die den jetzigen Ereignissen ziemlich ähnlich war. Die halbherzige politische und wirtschaftliche Öffnung Algeriens durch die vom Militär dominierten Regierungen der 90er-Jahre nutzten aber vor allem der Mafia aus dem alten Apparat und der Armee.

Jetzt hat die täglich erduldete Perspektivlosigkeit erneut zur sozialen Explosion geführt. Und die Oppositionsparteien haben nur noch bedingt Einfluss auf die Rebellion. In Tizi Ouzou, Hauptstadt der Kabylei, wo die Unruhe am größten ist, wurde selbst ein Büro der hauptsächlich in dieser Region verankerten „Front der Sozialistischen Kräfte“ (FFS) Ziel der Steine. Die Partei, die als einzige eine tief greifende Demokratisierung Algeriens fordert, gilt den Radikalsten unter den Jugendlichen als „Schwätzer“.

Außerhalb der Kabylei ist keinerlei politische Option auszumachen, die die Rebellion der algerischen Jugend kanalisieren könnte. Während die Presse von einem „algerischen Frühling“ spricht, versucht Präsident Abdelaziz Bouteflika, den Konflikt auszusitzen. Aber ohne schnelle und tief greifende Reformen wird die Krise weiter eskalieren. Der nächste Marsch auf Algier ist bereits geplant: Am Unabhängigkeitstag, dem 5. Juli, ruft die FFS zur Demonstration auf. „Dieses Mal“, schwören die Jugendlichen, „werden wir bis zum bitteren Ende gehen.“